Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
schweigend und entsandte seinen Geist in die Nacht hinaus; dann, nachdem er sich vergewissert hatte, dass nichts Besorgniserregendes zu vernehmen war, trieb er Darsor an. Das mächtige schwarze Ross sprang los, gefolgt von Imi.
Ein paar Stunden später begann es zu nieseln, doch der Regen behinderte sie nicht, und das Reiten hielt sie warm. Maerad zog sich die Kapuze nicht über den Kopf; sie genoss den Atem des kalten Windes im Gesicht, und ihr Haar wehte hinter ihr her, während sie dahingaloppierten. Mittlerweile befanden sie sich längst auf den Höhenzügen und stießen auf keine Häuser mehr. Gelegentlich erblickte Maerad auf Hügelkuppen die Schemen vereinzelter aufrechter Steine, die wie drohende Finger gen Himmel ragten. Abgesehen davon jedoch raste das Hochland an ihr vorüber wie ein schwarzes Meer, auf dem sich dunkle Wellen kräuselten. Der Mond stieg höher und verbarg sich gänzlich hinter den Wolken, bis sie auf der Straße vor sich nur noch einen fahlen Schimmer erkannten, der sich durch die hügelige Leere zog. Maerad beschlich das Gefühl, dass sie sich gar nicht bewegte, sondern dass sie reglos wie eine Statue auf Imi saß, während die Höhenzüge mit einem heftigen Windstoß an ihr vorüberzogen.
Sie sprachen kein Wort. Rings um sie herrschte eine lauschende Stille, die eine Unterhaltung zu verbieten schien. Maerad schauderte. Die Kälte wurde allmählich beißend. Sie zog sich die Kapuze über den Kopf und den Mantel enger um sich. Maerad spürte, dass ihre Monatsblutung unmittelbar bevorstand, wodurch die Kälte noch schwieriger zu ertragen war. Ihr Körper fühlte sich sonderbar zerbrechlich an, als bestünde er aus Glas. Cadvan trieb sie zu immer größerer Eile an. Es regnete wieder, diesmal in Form eines heftigen Schauers. Dann wagte der Mond sich hinter seinem Versteck hervor, sodass die Straße silbrig vor ihnen gleich einem Pfad feuchten Mondlichts erglänzte, der sich zwischen den düsteren Hügeln endlos in die Ferne erstreckte. Zur dunkelsten Stunde der Nacht erkannte Maerad, dass die Straße sich durch einen Höhenzug kerbte, sodass sie eng zwischen zwei hohen Felsschultern verlief und im Schatten verschwand. Am Eingang der Kluft befand sich oben auf jeder Schulter ein stehender Stein. Sie ragten auf wie zwei gebrochene Fänge und schienen ein Tor ohne Sturz zu bilden. Als sie sich näherten, verlangsamte Cadvan die Schritte und ließ sich auf Maerads Höhe zurückfallen. Sie sah Hems fahles Antlitz unter Cadvans Mantel hervorlugen, die Augen dunkel und schlaflos.
»Man nennt diese Steine die Gebrochenen Zähne«, erklärte Cadvan. »Es ist ein Ort des Bösen, aber wir haben keine Zeit, ihn zu umgehen. Besser wäre es, bei Tageslicht hindurchzureiten, obwohl es selbst dann noch unangenehm genug ist. Wie immer müssen wir zwischen mehreren Übeln wählen. Sei auf der Hut, behalte die Hand am Schwertgriff und den Verstand klar.«
Als sie sich dem Tor näherten, spürte Maerad, wie sich ihr Widerstreben steigerte und sich ihr die Nackenhaare aufrichteten. Cadvan hielt an und lauschte; Maerad tat es ihm gleich, hörte jedoch nur den Wind.
»Ich glaube, man lauert uns hier auf«, meinte Cadvan. »Wir stehen vor einer schwierigen Entscheidung: Wagen wir uns dem entgegen, was uns erwartet, oder erwarten wir es hier?« Er zog Arnost, sein Schwert; die Klinge glitt mit einem leisen Singen aus der Scheide. Maerad zögerte kurz, dann ergriff sie Irigans Heft und fühlte das Gewicht der Waffe in der Hand. In Gedanken hörte sie die spöttischen Worte ihres Schwertlehrers Indik widerhallen: Hoffen wir, dass du Glück hast. Im Augenblick fühlte sie sich nicht besonders glücklich.
Langsam bewegten sie sich auf das Tor zu. Imi schnaubte und zitterte, als sie in den schwarzen Schatten des Hügels gelangten. Kaum waren sie an den stehenden Steinen vorbei, war es, als hätte sich eine Binde um Maerads Augen gelegt. Sie konnte rein gar nichts vor sich erkennen, nicht einmal den dunklen Schemen von Cadvan und Darsor. Maerad holte tief Luft, um ihre Furcht zu bändigen und ritt weiter. Allmählich passten ihre Augen sich der Dunkelheit an, und sie nahm undeutliche Formen wahr, Schatten in den Schatten. Rings um sie spürte sie eine bedrohliche Wachsamkeit, als wäre sie eine Maus, die an einer reglos lauernden, bösartigen Katze vorbeikroch, welche nur darauf wartete, dass die Beute in Reichweite ihrer Krallen gelangte. Die Schlucht war erfüllt von dem bedrückenden Grauen, das Maerad erstmals
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