Die Pellinor Saga Bd. 1 - Die Gabe
Mitte stand auf einem hohen Sockel die herrliche Statue eines sich aufbäumenden Pferdes ohne Trense und Zaumzeug. Die Mähne wehte in einem unsichtbaren Wind. »Lanorgrim!«, verkündete Cadvan und deutete auf das Standbild. »So tauchte er im Morgengrauen der Welt aus dem Norden auf, wild und frei. Niemand vermochte ihn zu bändigen außer Maninae, dem verlorenen König. In der Schlacht wandelte sich seine Mähne zu Feuer, seine Augen wurden zu Lanzen, und der Donner seiner Hufe entfachte Furcht in den Herzen all seiner Feinde. Ich bezweifle, dass man seinesgleichen in Annar je wieder sehen wird. Das Tal von Inneil war sein Weideland, deshalb ehrt diese Schule sein Andenken. Das Pferd dient als Wappen der Schule.« Maerad besann sich der Broschen, die Silvia und Malgorn trugen.
»Hat er auch gegen den Namenlosen gekämpft?«, wollte sie wissen.
»Ja, als einer von vielen. In der entscheidenden Schlacht wurde er von einem bösen Pfeil getroffen, der ihm das Blut vergiftete, und er starb unter entsetzlichen Qualen. Als einer von vielen beklagenswerten Gefallenen. Ein mächtiger Grabhügel wurde für ihn errichtet, und sein Andenken wird in ganz Annar geehrt.«
Dutzende Menschen überquerten den Kreis auf ihrem Weg zu einer Steinhalle auf der gegenüberliegenden Seite, der Großen Halle von Inneil. Ihre Doppeltüren, dreimal so hoch wie ein Mensch, standen weit offen. Warmes Licht von zahlreichen Wachsstöcken drang heraus, und Musikfetzen wehten durch die laue Luft. Maerad hatte noch nie eine solche Vielfalt von Leuten gesehen: Männer und Frauen, auch reichlich Kinder, allesamt prunkvoll gekleidet. Die meisten trugen das Pferdeabzeichen, aber sie sah auch etliche andere: ein dreiblättriges Kleeblatt, eine Distel, eine Rose, eine Eichel, drei miteinander verbundene Sterne. Ein paar der Leute waren dunkelhaarig und blauäugig so wie sie, die meisten aber hell wie Malgorn. Verwundert erspähte sie einen Mann mit dunkler Haut in goldenen und roten Gewändern, an denen eine goldene Sonne mit zahlreichen Strahlen haftete. Cadvan und sie erreichten die Tür gleichzeitig mit ihm, und der Mann lachte und ergriff Cadvans Hand, als er ihn wiedererkannte.
»Was für eine freudige Überraschung, alter Freund!«, rief er aus. »Ich hätte nicht gedacht, dass du dich so weit südlich herumtreibst.«
»Saliman!«, sagte Cadvan. »Fürwahr eine freudige Überraschung! Was führt dich hierher?«
»Neuigkeiten, wie immer, Neuigkeiten. Um welche zu erfahren und selbst zu erzählen. Ich bin der Botenjunge des Schicksals, den die Launen der Ereignisse bald hierhin, bald dorthin verschlagen.« Er wandte sich Maerad zu. »Aber du hast mich noch gar nicht deiner holden Begleiterin vorgestellt.«
»Meine Gefährtin ist heißblütiger, als ihr Aussehen erahnen lässt«, verriet Cadvan mit einem Augenzwinkern zu Maerad. »Ich persönlich würde mich mit einer solchen Kriegerin nicht anlegen. Dies ist Maerad von Pellinor.« Bei der Erwähnung von Pellinor weiteten sich Salimans Augen vor Erstaunen. »Maerad, das ist ein alter Freund, Saliman von Turbansk, das fern im Süden liegt. Aber sei gewarnt: Er ist ein Spitzbube.«
»Wie ich sehe, hat Cadvan sich nicht verändert«, stellte Saliman grinsend fest. »Er spricht nur Anschuldigungen aus, um seine eigenen Makel zu verschleiern. Von Pellinor?«, fuhr er, an Maerad gewandt, fort. »Ist jemand von dort entkommen? Das sind fürwahr ermutigende Neuigkeiten. Da freut es mich umso mehr, dich kennenzulernen, Maerad.« Förmlich neigte er das Haupt, und Maerad tat es ihm gleich, dankbar für die Förmlichkeit, die ihre Unbeholfenheit ein wenig übertünchte. Sie hatte gedacht, alle Menschen wären hellhäutig wie sie, und fühlte sich erneut an das Ausmaß ihrer Unwissenheit gemahnt.
»Habt Ihr Pellinor gekannt?«, erkundigte sie sich.
»Ich war nur einmal dort. Es war ein schöner Ort, und es hat mich betrübt, von seinem Schicksal zu erfahren. Leider werden solche Geschichten dieser Tage zunehmend häufiger und ihre Wirkung lässt nach; Pellinor war immerhin der erste Ort, dem es widerfuhr. Nach der Plünderung reiste ich nach Jerr-Niken - es war einer der traurigsten Anblicke, die ich in meinem Leben gesehen habe. All diese Pracht verheert, soviel Tod.« Er schüttelte den Kopf. »Ich persönlich glaube, dass es nichtbloß das Werk von Banditen war. Banditen wären nicht so gründlich bei der mutwilligen Zerstörung gewesen. Ich bin überzeugt, dass die Finsternis dabei die Hand im
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