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Die Pension am Deich: Frauenroman

Die Pension am Deich: Frauenroman

Titel: Die Pension am Deich: Frauenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
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Riesenschneeflocken auf dem Bahnsteig liegen. Immer wieder niesend geht sie in die Hocke und versucht gleichzeitig ihre tropfende Nase zu versorgen.
    »Lassen Sie mal! Ich helfe Ihnen«, bestimmt Tomke resolut. Ohne eine Zustimmung abzuwarten, sammelt sie die Papiertücher mit ein paar raschen Handbewegungen zusammen.
    »Sie haben anscheinend keine Angst, sich anzustecken?«, stellt Anne halb erleichtert, halb peinlich berührt, fest.
    »Nee, habe ich nicht«, gibt Tomke zu.
    Die beiden Frauen verharren noch immer in der Hockstellung. So auf gleicher Höhe, kann Tomke nicht anders. Sie fragt: »Hatten Sie, ich meine, haben Sie einen Trauerfall?«
    Anne muss niesen und vergräbt ihr Gesicht in einem Taschentuch.
    »Tut mir leid, ich wollte nicht, aber Ihre Kleidung, und …«, stammelt Tomke und ärgert sich, dass sie nicht einfach ihre Klappe halten konnte.
    »Ist schon gut«, hört sie da ihren Gast antworten. »Ich bin nicht in Trauer. Das ist eine schreckliche Frühblüherallergie, und Schwarz mag ich als Farbe.«
    »Ach so«, sagt Tomke und denkt: Was ein Glück. Auf frische Witwen kann ich verzichten. Aber dass man Schwarz als Farbe bezeichnen kann, auf die Idee wäre ich im Leben nicht gekommen.
    Wieder am Auto angekommen, erinnert sich Tomke an ihren ungebetenen Beifahrer. Sie wirft Anne einen schrägen Blick zu. Soll sie ihr die Wahrheit sagen? Das würde die Rückfahrt entspannen. Oder auch nicht. Wer weiß, wie sie reagiert. Vielleicht hat sie einen Riesenschiss vor Mäusen und wird hysterisch. Das hätte ihr gerade noch gefehlt. Außerdem hat es sich Frau Wilkens schon auf dem Beifahrersitz bequem gemacht. Sie scheint schlagkaputt zu sein.
    Okay, denkt Tomke und startet den Motor. Verhalt dich bloß weiter still, du dumme Maus!

Kapitel 7
     
     
    Der erste Abend für Anne im Wangerland
     
    Sie lässt sich in die Autopolster zurücksinken und hält ein Papiertaschentuch unter die tropfende Nase. Die brennt wie Feuer. Nicht mehr daran zu denken, sie richtig auszuschnauben. Was auch vergebliche Liebesmühe wäre. Es würde die Überreizung nur noch anstacheln.
    Die Bahnfahrt war anstrengend. Das war vorauszusehen gewesen. Sonne und Pollen in Höchstform und dazu immer wieder Wolken aus Parfüm, Deodorant und Rasierwasser. Manchmal unerträglich penetrant. Anne hatte die Auswirkungen auf ihr Immunsystem in ihrer euphorischen Wegfahrlaune bagatellisiert. Umso erleichterter ist sie jetzt, neben Tomke Heinrich im klimatisierten Wagen zu sitzen. Zum Glück verströmt ihre Frühstückspensionswirtin keinen künstlich aufgelegten Duft und sie ist angenehm schweigsam. Sie hat das Radio angestellt, anstatt ihrem Gast einen Smalltalk aufzudrücken. Nur gleich am Anfang ihrer Begegnung hatte sie sich zu einer besorgten Nachfrage hinreißen lassen. Anne hatte erst gar nicht gewusst, was sie meinte. Sicher, ihr verweintes Aussehen erntet häufig prüfende Blicke. Das ist sie gewohnt. Selten wird die Frage laut ausgesprochen. Aber ihre schwarze Garderobe hat noch nie jemand mit einem Trauerfall in Verbindung gebracht. Farben und ihre Wirkung.
    Anne betrachtet Tomke verstohlen von der Seite. Die hat sie sich nach ihrem Telefongespräch auch anders vorstellt. Ihre Stimme klang so angenehm weiblich. Zu ihr passen weiche, warme Töne. Vielleicht ein Touch ins Verspielte. Mit der Vision liege ich knapp daneben, lächelt Anne still in sich hinein. Ihre Vollblutfrau steckt in Jeans und einer farblosen Windjacke. Outfit und der ultrakurze Haarschnitt erinnern an einen großen Jungen. Einen in die Jahre gekommenen. Die Stoppeln auf ihrem Kopf sind fast weiß. Nur an den äußersten Spitzen sind Spuren einer rötlichen Haartönung zu erahnen.
    Lange kann sie diesen Herrenschnitt noch nicht haben. Dafür fährt sie sich zu häufig mit der Hand an den Scheitel, hält irritiert inne und legt sie unverrichteter Dinge wieder auf ihrem Oberschenkel ab. Als wollte sie sich eine imaginäre Haarsträhne aus der Stirn streichen. Das wirkt rührend hilflos.
    Warum hat sie sich ihr Haar so kurz schneiden lassen? Vielleicht hatte sie schlicht und einfach keine Lust mehr, es regelmäßig zu färben. Und um sich den zähen Farbübergang zu ersparen, hat sie es radikal kürzen lassen. Wie alt mag sie sein? Mindestens fünfzig. Oder eine Krankheit? Sie bekommt Chemotherapie und hat sich, bevor sie ihr Haar auf der Erde zusammensammeln muss, entschieden, vorher die Schere walten zu lassen. Um schneller eine Perücke tragen zu können.
    Anne

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