Die Pension am Deich: Frauenroman
ungebeten mit durch die Tür geschlichen. Kees-Jan. Verdammt, er soll in seinem geliebten Amsterdam bleiben und sie in Frieden lassen. Tut er aber nicht.
In Hannover hat sie sich mit ihm immer in einem Doppelzimmer getroffen. Außerhalb der Stadt. In einem kleinen Hotel in der Wedemark. Völlig verrückt. Sie waren beide ungebunden und hatten nichts zu verbergen. Doch Kees-Jan wollte es so. Es hat ihm diebische Freude bereitet, dass man an der Rezeption glaubte, sie hätten eine verbotene Affäre. Die kleine Theatervorstellung hat ihn belebt. In dem Augenblick hätte Anne spätestens ein Licht aufgehen müssen. Kees-Jan war ein Reisender und würde auch in ihrem Leben nur einer sein. Aber um diese Einsicht an sich herankommen zu lassen war es zu spät. Sie war viel zu verliebt und dem kribbelnden Reiz, sich mit ihm zu verstecken, längst erlegen.
Bis dahin war ihr Lebenslauf gradlinig. In Hameln geboren und in einem Reihenhaus Richtung Ohrberg aufgewachsen. Nie umgezogen. Kein Scheidungskind. Super Abitur. Studium ohne Wartezeit. Männer: Keine unter die Haut gehende Begegnung. So erschien es ihr jedenfalls, nachdem sie Kees-Jan kennengelernt hatte.
Sie wollte ihre Freundin und Kommilitonin Eva abends von der Volkshochschule abholen. Eva leitete einen Kurs über romantische Lyrik. Kees-Jan war dort auch Dozent. Niederländisch für Anfänger. Sie trafen sich auf dem Flur. Als er sie erblickte, blieb er wie vom Donner gerührt stehen. Mit einer faszinierenden Selbstverständlichkeit kam er langsam auf sie zu und stellte sich förmlich, mit einer angedeuteten Verbeugung vor: »Kees-Jan.«
Anne konnte sich das Lachen nicht verkneifen. Sein Name hörte sich so komisch an. Wie Käse-Jan. Herr Antje aus Holland, dachte sie albern. Er lachte nicht. Er betrachtete sie völlig ungeniert, als wäre sie ein kostbares Gemälde. Sein Blick ruhte mit einer so großen Ernsthaftigkeit auf ihrem Gesicht, dass sie errötete.
»Ich möchte dich malen«, bat er in seiner direkten Art. Wobei es nicht wie eine Bitte klang, der man sich widersetzen konnte. Anne schluckte den nächsten nervösen Lachanfall hinunter, ohne Chance, sich seinem Blick zu entziehen. Seinen wundervollen graublaugrünen, manchmal sogar braunen Augen. Als könnten sie sich für keine Farbe entscheiden. Anne war längst von ihrem Zauber gefangen. Er durfte sie malen. Er liebte ihr Haar, ihre Haut und ihren Mund. Ihre Ernsthaftigkeit. Ihre Tiefe. Anne liebte es, von ihm als etwas ganz Besonderes gesehen zu werden. Sie liebte seine ansteckende Begeisterungsfähigkeit. Er malte sie sehr oft. Aber sie hatte sich auf keinem seiner Bilder wiedererkannt.
Anne öffnet die Augen, um die Erinnerungen zu verscheuchen. Sie starrt aus dem Fenster und konzentriert sich auf die vorüberziehenden Wolken.
Als sie aufwacht, ist es dunkel. Ihre Schultern schmerzen und sie friert. Sie hat eindeutig mehr als eine kleine Nickerchen-Zeit geschlafen. Leise stöhnend rappelt sie sich auf und knipst die Stehlampe an. Noch immer schlaftrunken tapst sie zu ihrem Koffer und wühlt einen wärmeren Pullover hervor. Sie zieht ihn bibbernd über. Ein heißes Getränk wäre gut. Aber an einen Wasserkocher hat sie beim Packen nicht gedacht. Sie hat an überhaupt nichts gedacht, so kommt es ihr jetzt vor. Sie ist einfach losgefahren.
Der Blick in den Badezimmerspiegel lässt ihre Stimmung ein wenig ansteigen. Ihre Nase ist zwar noch geschwollen, doch sie tropft nicht mehr. Es hat sich schon eine heilende Kruste gebildet. Ein gutes Zeichen. Dick einfetten, eine Nacht schlafen, und sie sieht wieder wie ein normaler Mensch aus. Viel wichtiger ist: sie wird sich auch so fühlen. Sie hätte sich früher die Medizin gönnen sollen und nicht so lange die Tapfere spielen. Aber sie hofft jedes Jahr aufs Neue, dass die Allergie nicht so heftig ausfällt und sie ohne Chemiekeule davonkommt.
Lisette. Meine Güte, ihre Tochter hat sie völlig vergessen. Hastig greift Anne nach dem Hörer des Zimmertelefons. Sie hat Lisette versprochen, sich zu melden. Dabei ist Anne bewusst, dass Lisette trotz ihres Versprechens nicht auf ihren Anruf wartet. Ihre Tochter mag dieses routinierte An- und Abmelden nicht. Diese ihrer Meinung nach hirnlosen, stereotypen Sätze: »Hallo! Ich bin gut angekommen. Alles in Ordnung. Nettes Zimmer. Das Wetter hält sich. Nein, hier oben regnet es auch nicht. Bis dann.« Mögen oder nicht mögen, spricht Anne sich Mut zu, an ihrer Einstellung festzuhalten. Sie tippt Lisettes
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