Die Pension am Deich: Frauenroman
Containers festgekrallt haben. Vielleicht hatte sie im Schutz des Grünschnitts einen kuscheligen Nestbau in Planung. »Einen blöderen Platz kannst du dir wohl nicht aussuchen!«, schimpft Tomke und klopft energisch auf die Sitze.
»Los, raus hier! Ich hab’ keine Zeit!«
Nichts. Keine Maus in Sicht. Tomke schaut auf die Uhr. Um 15.40 kommt der Zug mit ihrem Gast an. Eine alleinreisende Frau. Ein Lichtblick. Tomke will die Tour nutzen und vorher zum Wertstoffhof in Wilhelmshaven fahren. Wird knapp, denkt sie genervt und rennt in die Küche. Sie sieht sich um und entscheidet sich für ihren längsten Holzkochlöffel. Zurück am Wagen reißt sie alle Türen auf und stochert wild mit dem Löffel unter alle Sitze.
»Sieh zu, dass du Land gewinnst!«
Nichts rührt sich. Tomke kniet sich hin und linst in den dunklen Fußraum. Keine Spur von der Maus zu sehen.
»Okay«, murmelt Tomke und rappelt sich hoch. »Entweder du hast schon längst das Weite gesucht, oder du fährst mit nach Wilhelmshaven. Eins sag’ ich dir: Krabbel mir nicht ins Hosenbein. Dann ist Schluss mit unserem Burgfrieden.«
Sie pfeffert den Holzlöffel Richtung Garage und setzt sich ans Steuer. Es ist schon ein eigenartiges Gefühl, die vollgepackten Säcke hinter sich zu wissen und irgendwo in dem alten Schnitt hockt ein kleines, freches Felltier. Das sich ruhig verhält. Tomke erreicht ohne Zwischenfall den Wertstoffhof und hat auch hier Glück. Es sind ausnahmsweise nur wenige Kunden auf dem Platz, und sie kann ganz nah am Grünschnittcontainer halten. Wieder im Wagen sucht Tomke auf die Schnelle noch einmal alle Ecken nach ihrem blinden Passagier ab. Nichts zu entdecken. Also, weiter.
Es ist schon zehn vor vier als sie einen Parkplatz vor dem Bahnhof ergattert. Ihr neuer Gast konnte ihr keine Handynummer geben. Sie hätte keines, hat sie knapp erklärt. Aber sie hat meine, tröstet sich Tomke, und die Dame ist hoffentlich so schlau, auf dem Bahnsteig stehen zu bleiben.
Eilig greift Tomke nach ihrer Jacke, die auf dem Beifahrersitz liegt. Im gleichen Augenblick springt ihr das Mäuschen über die Hand und verschwindet wie ein geölter Blitz wieder im Fußraum. Tomke stößt einen spitzen Schrei aus. Sie ekelt sich nicht vor Mäusen, aber die unerwartete Berührung schüttelt sie nachträglich. Was jetzt? Keine Zeit mehr, um auf Mäusejagd zu gehen. Sie muss erst einmal ihren Gast abholen. Der Zug ist längst eingefahren. Andere Fahrgäste rollen bereits ihre Koffer zu den wartenden Taxen.
Tomke rennt los. Sie hätten einen festen Treffpunkt ausmachen sollen oder so eine Art Notprogramm für alle Fälle. Soweit hat sie gar nicht gedacht. Den Abholservice hat sie ganz neu auf der Homepage stehen. Dazu hat Juliane ihr geraten. Dass er gleich in Anspruch genommen wird, damit hat Tomke im Leben nicht gerechnet. Irgendwie hat doch jeder ein Auto, es sei denn, man ist schon uralt. Aber diese Anne Wilkens hat sich nicht wie eine Greisin angehört.
Als Tomke atemlos den Bahnsteig erreicht, steht dort nur noch eine Frau. Eindeutig keine Seniorin. Zwar schwarz gekleidet, doch ihre üppige Lockenpracht glänzt leuchtend braun in der Sonne. Eine große Frau. Eine sehr große. Wie sie da neben ihrem Koffer steht und ihr entgegenblickt, das hat etwas Erhabenes. Wie eine Szene aus einem Mafiafilm, muss Tomke unwillkürlich denken. Fehlt nur noch die richtige Musikuntermalung und sie würde sich nicht wundern, wenn diese Lady in Black ganz langsam ihren offenen Mantel zur Seite schöbe, um einen Revolver zu ziehen. Tomke eilt auf sie zu. Aus der Nähe wirkt sie noch imposanter. Allerdings nur, was ihre Körpergröße betrifft. Ansonsten hat sie ihre Perfektion verloren. Ihr Gesicht ist stark verquollen, die Nase knallrot. Sie muss geweint haben. Nicht mal ebenso, sondern richtig lange und heftig. Und das während einer Zugfahrt! Solche ungenierten Gefühlsausbrüche rühren Tomke, ob sie nun will oder nicht. Sie lächelt sie betont herzlich an: »Moin, Sie sind Frau Wilkens, nehme ich mal an?«
Die Angesprochene nickt erleichtert. Wahrscheinlich hat sie schon befürchtet, vergessen worden zu sein.
»Ich bin Tomke Heinrich, tut mir echt leid, aber ich habe mich mit der Zeit verkalkuliert.«
»Nicht der Rede wert«, schwächt Anne freundlich ab.
Sie will nach ihrem Koffer greifen, als sie eine Niesattacke schüttelt. Hektisch sucht sie nach einem Taschentuch in ihrer Manteltasche und zerrt gleich eine ganze Sammlung gebrauchter mit heraus. Sie bleiben wie
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