Die Pension am Deich: Frauenroman
unterbricht ihre Überlegungen. Tomke verbreitet durch ihr Schweigen keine Ruhe mehr. Irgendetwas stimmt nicht, desto länger sie im Auto sitzen. Auf dem Bahnsteig wirkte sie gelassener. Fasziniert erinnert sich Anne daran, wie selbstverständlich Tomke ihre gebrauchten Taschentücher eingesammelt hat. Diese Frau kann so schnell nichts erschüttern, war ihre Einschätzung. Aber nun ist sie eindeutig verspannt. Ihr Blick durchkämmt immer wieder fahrig den Fußraum. Als würde sie etwas Wichtiges vermissen oder erwarten, gleich durch den Unterboden der Karosserie zu treten.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragt Anne beunruhigt. Immerhin wäre sie als Beifahrerin besser für Suchaktionen geeignet. So breit ist die Küstenstraße nicht und auch nicht schnurgerade. Sie weist beachtliche Kurven auf.
»Nein, nein! Alles klar!«, wehrt Tomke hastig ab. Sie setzt sich kerzengerade auf und starrt nun übertrieben konzentriert auf die Fahrbahn. Anne bohrt nicht weiter nach. Aber ohne den Grund zu kennen, zieht sie ihre langen Beine näher an sich heran und behält den Fußraum im Auge.
Die auf Tomke Heinrichs Homepage angepriesene Meeresnähe stimmt wirklich. Die Frühstückspension liegt direkt hinter dem Deich. Dazwischen eine schmale Straße, die sinnigerweise Deichstraße heißt. Kaum ausgestiegen, wird Anne schon wieder von einer heftigen Niesattacke geschüttelt. Sie nimmt sich vor, nicht zögerlich zu sein. Gleich auf dem Zimmer wird sie eine Tablette schlucken. Sie hat keine Geduld mehr zu warten, bis die Salzluft ihre Heilkraft entfaltet hat.
»Mögen Sie einen Begrüßungstee?«, hört sie Tomke fragen. Anne blinzelt sie überrascht an. Während der Fahrt hatte sie das Gefühl, dass ihre Wirtin sie so schnell wie möglich abliefern will. Aber jetzt erscheint sie regelrecht erleichtert und wieder so locker, wie Annes erster Eindruck von ihr war. Hatte sie Angst vor der Autofahrt? Vielleicht übernimmt sonst ihr Mann das Abholen der Feriengäste und heute musste sie einspringen, obwohl sie wenig Fahrpraxis hat.
Sie spürt Tomkes fragenden Blick auf sich gerichtet und schüttelt höflich den Kopf: »Nein, danke. Ich brauche erst einmal Ruhe.« Sie tippt sich vielsagend auf die Nase.
Tomke nickt verstehend und schnappt sich unaufgefordert den Koffer.
»Dann kommen Sie mal herein!«
Annes Zimmer ist ein Doppelzimmer und dementsprechend geräumig. Hell und freundlich und das beste: es hat keinen Teppichboden, der alte Gerüche oder feindliche Milben speichern könnte. Die beiden Fenster sind groß und ohne Gardinen. Man hat freien Blick über den Deich auf einen Zipfel Meer am Horizont unter dem weiten Himmel.
»Wenn Sie etwas brauchen, ich bin zu Hause. Sie können jederzeit runterkommen. Es gibt einen Gemeinschaftsraum, und die Terrasse können Sie auch benutzen. Ach, wann wollen Sie frühstücken?«
»Um neun«, antwortet Anne entschieden. »Ich werde gründlich ausschlafen.«
Tomke zögert. Sie will unverkennbar noch eine Frage stellen. Was fällt ihr daran so schwer? Sie vermietet doch nicht erst seit heute, und diese Situation muss für sie längst Routine sein.
»Welches Getränk nehmen Sie zum Frühstück?«, rückt sie endlich heraus.
Anne sieht sie konsterniert an. Was für eine gestelzte Satzstellung? Die passt überhaupt nicht zu dieser Frau. Warum fragt sie nicht: Trinken Sie Tee oder Kaffee? Oder einfach: Tee oder Kaffee?
»Kaffee«, antwortet Anne betont schlicht. Tomke nickt und schließt die Tür hinter sich.
Anne bleibt in der Mitte stehen und beginnt sich langsam wie ein kleines Mädchen im Kreis herumzudrehen. Sie breitet ihre Arme aus. Alles für mich! Ein Zimmer ganz für mich allein.
Ganz außer Atem lässt sie sich in den Sessel fallen und schenkt sich ein Glas Wasser ein. Frau Heinrich hat vorsorglich eine Flasche und ein Glas auf dem zierlichen Tisch bereitgestellt. Anne zieht sich den zweiten Sessel heran und legt ihre Beine hoch. Dann schluckt sie ihr Medikament. Richtig feierlich. Gleich wird sie ein erholsames Nickerchen machen. Der Wirkstoff macht müde, das weiß sie aus Erfahrung. Aber schon nach dem Aufwachen wird der Wasserhahn unter ihrer Nase nicht mehr so tropfen und ihr Kopf sich nicht wie ein aufgedunsener Schleimpfropf anfühlen.
»Auf ein paar rotzfreie Tage«, prostet sie sich selbst zu und schließt ihre Augen. Sie hat es gewusst. Jetzt lassen sich die Bilder nicht mehr zurückdrängen. Seit sie das Zimmer betreten hat, fühlt sie seine Gegenwart. Er hat sich
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