Die Pension am Deich: Frauenroman
für Monika und Frank
Die beiden erklimmen, ohne nach einer bequemen Treppe zu suchen, gleich vor der Pension den Deich. Dahinter haben sie Strand und Meer vermutet. Stattdessen blicken sie auf einen erstaunlich breiten Saum aus Rasen. Ein paar Strandkörbe sind hier und da aufgestellt und geben dem Grün Farbtupfer wie erste Blumen im Frühling. Monika und Frank laufen auf der Deichkrone entlang, bis sie eine Pforte und einen Pfad nach unten finden. Er führt weiter über die Wiese bis an das Wasser. Dort ist der Deichfuß mit Steinen und Beton befestigt und bietet Schutz gegen die heranrollenden Wellen. Es ist Flut. Monika bleibt für einen Augenblick stehen und atmet den herben Geruch des Salzwassers ein. Das rhythmische Rauschen seiner Bewegung tröstet sie wie eine sanfte Umarmung. Am Horizont erkennt man Schiffe. Scheinbar so nah, als könne man sie mit der Hand greifen. Und doch sind sie in unerreichbarer Weite. Wasserentfernungen lassen sich schlecht einschätzen, das hat sie im Segelunterricht gelernt. Beim Kentern immer am Bootskörper bleiben, haben die Ausbilder ihnen eingetrichtert. Nicht auf den größenwahnsinnigen Einfall kommen, allein zum Ufer zu schwimmen. Erstens überschätzt ihr dabei eure Kräfte, und zweitens seid ihr am Boot für Rettungskräfte besser zu sichten.
Frank greift nach Monikas Arm und zieht sie weiter. Sie gehen nebeneinander, Hand in Hand. Sie sind ein Paar. Eines von vielen. Dieser Weg zwischen Horumersiel und Schillig wird rege zum Spazierengehen genutzt. Verbotenerweise auch von einigen Radfahrern. Frank sieht ihnen sehnsüchtig hinterher.
»Morgen leihen wir uns Räder!«, kündigt er an, und Monika nickt bereitwillig. Es ist ihr egal. Sie fährt ebenso gerne Rad, wie sie zu Fuß geht. Aber sie ist dankbar, dass Frank bereits die Programmgestaltung für den nächsten Urlaubstag übernimmt. Sie trudelt noch viel zu sehr, um eigene Ideen zu entwickeln.
Der Deichfuß führt in einem großen Bogen um eine Landzunge. Sie gehört schon zu Schillig. Gleich zu Anfang, geschützt in der Bucht, liegt ein Campingplatz. Die weißen Wohnwagen glitzern wie Silber in der Sonne. Hier sieht das Deichvorland so aus, wie sie es sich vorgestellt hatten. Überall heller, feiner Sand. Im Hintergrund eine bizarr zusammengewehte Dünenlandschaft, die von verblasstem Schilfgras aus dem Vorjahr gehalten wird. In seinem Ansatz kann man schon das frische Grün erkennen. Die jungen Triebe recken sich nach oben und werden in kurzer Zeit das Vertrocknete verdrängt haben.
Monika und Frank setzen sich dicht nebeneinander auf eine Bank und genießen die vorabendliche Stimmung, das langsame Zusammenfließen der Farben. Weiter draußen auf dem Naturstrand werden Drachenflieger gestartet. Sie ziehen mit leisem Surren ihre Luftpirouetten. Hier braucht man nicht nach Worten zu suchen. Das Schweigen hat nichts Künstliches. Monika hätte ewig so sitzen bleiben können.
»Fehlt nur noch ein Shantychor«, unterbricht Frank die verbindende Stille und zieht seine Frau fest an sich heran. Sie lehnt sich an seine Schulter. Riecht das Salz auf seiner Jacke und spürt die Wärme seines Körpers darunter.
»Wie kitschig«, lacht Monika. »Ein Shantychor.«
»Nein, überhaupt nicht«, widerspricht Frank. »Leider waren die Jungens nicht zu überreden, an den Strand zu kommen. Lass uns zurückgehen. Ich habe Hunger wie ein Bär.«
»Ich auch«, willigt Monika ein.
»Du auch?«, fragt er gespielt streng. »Aber dann nur wie eine Bärin.«
Er reibt zärtlich seine Nase an ihrem Hals. Monika mag sonst diese Berührung. Jetzt erscheint sie ihr fremd. Wie nicht zu ihr gehörend. Als hätte ihre Haut die Sensoren verloren. Es ist alles zu schnell gegangen, versucht sie sich zu trösten. Was erwarte ich? Das Chaos in meinem Kopf braucht Zeit, um sich zu sortieren. Zeit, um mein altes, vertrautes Leben wieder zu erkennen. Zu mögen. Zu lieben. Es wird wieder, wie es war. Ganz sicher.
Sie wählen den gleichen Weg für den Rückweg und gehen erst in Höhe von Horumersiel in den Ort hinein. Dort landen sie in der »Galerie«. Das Restaurant trägt seinen Namen zu Recht. An den Wänden hängen unzählige Fotografien. Jahrzehnte Küstengeschichte sind hier auf Zelluloid gebannt. Die rustikale, raumeinnehmende Theke, aufgelockert platzierte Tische und gedämpftes Licht geben der Gaststätte einen nostalgischen Touch. Schade. Es ist kein freier Platz mehr zu entdecken. Sie bleiben unschlüssig stehen. Sie haben beide wenig
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