Die Pension am Deich: Frauenroman
Lust, wieder nach draußen zu gehen. Dazu riecht es zu köstlich nach Bratkartoffeln. Monika kann Franks Magen knurren hören.
Hinten am Fenster richtet sich ein älterer Mann auf. Er winkt ihnen freundlich zu und weist auf die leeren Stühle neben sich und seiner Frau. Warum nicht, entscheidet Monika und marschiert los. Frank folgt ihr. Er ist sichtlich irritiert. Sie setzt sich gewöhnlich nicht so bereitwillig zu Fremden an den Tisch. Aber heute ist ihr das sogar willkommen, nicht nur, weil auch ihr der Magen in den Kniekehlen hängt. Noch eine Galgenfrist, denkt sie und schämt sich gleichzeitig für den Gedanken. Gewonnene Zeit, um sich auszuweichen und nicht krampfhaft nach Gesprächsstoff zu suchen. Das fällt ihr so schwer, als wäre ihr Gehirn blockiert. Es hat nur ein Thema parat: Frank, ich hätte dich fast verloren. Hilf mir wieder zurück. Ich will zu dir. Ich habe keine Ahung, wie ich mich so weit von dir entfernen konnte. Jetzt habe ich mich verirrt, aber ich liebe dich. Ich hatte es nur kurz vergessen. Jetzt habe ich Angst, weil du dich für mich vertraut und gleichzeitig so entsetzlich fremd anfühlst. Ähnlich, als hätte man mitten in einem guten Buch aufgehört zu lesen und ein anderes angefangen. Eines, das einem zufällig in die Hand gefallen ist und durch seine ersten Zeilen fasziniert hat. Aber nach wenigen Seiten hat der Autor sein Pulver verschossen und lässt den entflammten Leser ernüchtert zurück. Man greift wieder nach dem alten Buch. Möchte nahtlos an der Stelle in den Text eintauchen, an der man es liegen gelassen hat. Das funktioniert nicht immer. Um den Einstieg zu finden, muss man vielleicht ein ganzes Kapitel zurückblättern.
Das würde Monika Frank am liebsten erzählen. Mit dem kindlichen Wunsch, verstanden zu werden. Dem Bedürfnis nachzugeben wäre dumm. Jedes ausgesprochene Wort würde sie weiter voneinander entfernen, vor allem Frank unnötig verletzten. Sie braucht einfach nur Zeit. Die erlebten Gefühle beginnen bereits zu verblassen. Wie ein diffuser Traum, der sich nach dem Aufwachen auflöst und kaum eine Erinnerung hinterlässt. Hoffentlich.
Das Ehepaar ist um die Sechzig und äußerst redselig. Sie kommen aus Nordrhein-Westfalen und sind schon seit zwanzig Jahren Stammgäste in Horumersiel. Immer in der gleichen Pension. Mit den Vermietern verbindet sie mittlerweile Freundschaft. Sie kämen zu jeder Jahreszeit, betonen sie stolz. Hier gibt es kein schlechtes Wetter. Angefangen hat die Liebe zum Wangerland für sie mit einer Mutter-Kind-Kur. Von da ab sind sie mit der Familie hierher in den Urlaub gefahren. Es war ein bisschen, wie nach Hause kommen. Und jetzt fahren sie zu zweit, sagen sie und schenken sich ein vertrautes Lächeln.
Monika sieht die Frau nachdenklich an. Sie wirkt ausgeglichen, wie eine, die nichts so schnell aus der Fassung bringen kann. Die ihr Leben gut im Griff hat. Aber sie hat Hilfe gebraucht – und in Anspruch genommen. Eine Mutter-Kind-Kur.
Warum war sie selbst nur immer so zielstrebig und eisern darauf bedacht, alles allein zu schaffen. Eine Kur zu beantragen, das wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Das hätte mir unser Hausarzt ruhig einmal vorschlagen können, denkt Monika und weiß, dass der Gedanke unfair ist. Sie hätte den Ratschlag nicht angenommen. Nicht zu dem Zeitpunkt.
Die beiden Rheinländer überbieten sich gegenseitig, ihnen Ausflugstipps zu präsentieren. Man bräuchte auf jeden Fall ein Fahrrad, erklären sie. Man könnte hier wunderbare Touren machen. Zum Beispiel zum Außenhafen von Hooksiel. Der Fischstand dort wäre einsame Spitze. Lecker, oberlecker. Und auf dem Rückweg beim Wasserskilift vorbeischauen. Das darf man auf keinen Fall versäumen! Da gäbe es immer etwas zum Gucken. Auch zum Lachen, denn manche Fahrer landeten gleich hinter der Absprungschanze im Wasser.
Zur anderen Seite ginge die Route über Schillig, weiter am Deich entlang bis nach Minsen. Ein süßer Ort. Gleich neben Förrie. Dort finden sie den Deichgrafen. Hausgemachte Friesentorte. Erste Sahne.
Monika und Frank lassen sich von ihnen widerstandslos berieseln. Ihre ehrliche Begeisterung passt zu Bratkartoffeln mit Matjesheringen wie eine maritime Hintergrundmusik.
Sie verlassen gemeinsam die »Galerie«. Auf der Straße ist selbst den beiden Frohnaturen klar, dass ihr Abendmahl-Intermezzo keine Zukunft hat. Das ist angenehm.
Der Mann legt den Arm um seine Frau und sagt: »Wundern Sie sich nicht, wenn Sie müde sind wie ein Sack Mehl. Das
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