Die Pension am Deich: Frauenroman
Appetit nach einer längeren Krankheit.
Sie geht wieder ins Haus. Dieses Mal nicht schnurstracks am Spiegel vorbei. Sie bleibt vor ihm stehen und betrachtet sich kritisch. In diesem ausgeleierten Oberteil und mit dem weißen Stoppelschnitt sieht sie fremd aus. Ihre Haut ist viel zu blass, um auch Haar und Kleidung farblos zu lassen. Trotzig schiebt sie ihre Unterlippe vor. So sehe ich eben aus. Ende! Sie zögert. Immerhin hat sie Gäste. Die haben gestern schon schief auf ihre Aufmachung geguckt. Die Blicke ist sie gewohnt, aber sie hatten eine andere Ursache: ihren extravaganten, farbenfrohen Kleidungsstil. Sie gibt sich einen Ruck und marschiert zum Kleiderschrank. Wahllos greift sie zu und zieht ein türkisfarbenes Shirt aus dem Regal. Sie tauscht es gegen das Schlabberteil aus. Als sie wieder in den Spiegel schaut, sagt sie streng: »Mehr ist noch nicht möglich!«
Außerdem hat sie keine Zeit mehr. Sie muss endlich das Frühstück vorbereiten. Sie eilt nach draußen, um die bestellten Brötchen hereinzuholen. Sie hat einen Brötchenkasten geschützt unter dem Garagenvordach, und die Bäckerei Ulfers&Eden bestückt ihn frühmorgens nach Ansage.
Der Mann mit Hund spaziert gerade an der Pension vorbei. Er sieht wie gestern nicht nach rechts und links. Haben es auch nicht leicht, diese Hundebesitzer, denkt Tomke. Müssen Gassi gehen, ob sie Lust haben oder nicht. Sie schnappt die Brötchentüte und will zurück, da erinnert sie sich an die Maus. Aber – der Käfig im Auto ist leer. Die Leckereien sind nicht angerührt.
»Dumme Maus, du!«, schimpft Tomke. »Zu dumm, um sich helfen zu lassen.«
Verärgert knallt sie die Wagentür wieder zu. Sie muss sich etwas einfallen lassen. Womöglich hat die Maus schon eigene Fluchtpläne und beginnt sich irgendwo durchzufressen. Wer weiß, was die alles kaputt knabbern kann. Später, beschließt Tomke. Jetzt ist erst einmal Frühstück angesagt.
In der Küche arrangiert sie Teller mit verschiedenen Käsesorten, Tomaten und Obst. Wurstaufschnitt braucht sie kaum hinzustellen, haben ihre Gäste betont. Sie wären keine großen Fleischesser, schon gar nicht morgens. Soll ihr recht sein. Tomke rollt eine Scheibe Mettwurst auf und schiebt sie sich in den Mund.
Solange sie wenigstens alle Sorten Käse essen. Ihre Tochter hat ihr erzählt, dass manche keine Kuhmilchprodukte vertragen. Für die muss sie Ziegenkäse oder Tofu besorgen, und bei den Getreidesorten gibt es auch bereits Extrawünsche. Juliane will anfangen, sich darauf zu spezialisieren. Das läge auch voll im Trend.
Ohne mich, denkt Tomke. So ein Theater mache ich nicht mit. Sie nimmt zwei Teller, um sie ins Esszimmer zu tragen. Auf dem Flur prallt sie um Haaresbreite mit Anne zusammen.
»Können Sie fliegen oder warum hört man Sie nie kommen?«, rutscht es ihr statt eines Guten Morgen heraus. Als sie Annes betretenes Gesicht sieht, fügt sie besänftigend hinzu: »Moin, nichts für ungut, aber Sie haben mich tüchtig erschreckt.«
»Tut mir leid. Es war so leise hier unten, dass ich nicht wusste, ob jemand da ist. Ich bin ja viel früher aufgestanden, als gestern angekündigt. Ich habe mein Schlafbedürfnis reichlich überschätzt. Oder ist es die Macht der Gewohnheit, die mich hochgezogen hat. Ich stehe immer zeitig auf. Aber lassen Sie sich nicht stören. Ich warte. Ich kann mich …«
»Schon okay«, unterbricht Tomke die Entschuldigungsarie. »Ich muss nur die Teller nach drüben bringen. Ist schon alles klar im Esszimmer. Auch Macht der Gewohnheit. Setzen Sie sich oder kommen Sie mit mir in die Küche. Ich brauche nur noch den Kaffee aufzubrühen. Wie mögen Sie Ihr Frühstücksei?«
»Gar nicht. Für mich kein Ei«, winkt Anne ab und setzt sich an den Esstisch. Sie hätte gern das Angebot angenommen und wäre mit Tomke in die Küche gegangen, aber sie will deren Freundlichkeit nicht überstrapazieren. Hier nebenan zu sitzen ist auch sehr angenehm. Einfach entspannt zu warten, mit Blick auf das appetitanregende Büfett. Den Luxus, sich verwöhnen zu lassen, hat sie sich lange nicht gegönnt. Anne atmet genießerisch die aromatische Geruchsfahne des Kaffees ein. Kurz darauf stellt Tomke eine gefüllte Thermoskanne vor ihr auf den Tisch.
»Dann frühstücken Sie erst einmal kräftig«, ermutigt sie Anne, als hätte sie eine Aufbauköstlerin vor sich.
»Danke, das werde ich ganz bestimmt. Es sieht alles sehr verlockend köstlich aus und ich habe, ehrlich gesagt, einen Riesenhunger.«
»Ja, hier bekommt
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