Die Perserinnen - Babylon 323
Wahrheit nicht so genau. Um anzugeben, hat er mir ein Kapitel aus
dem Buch vorgelesen, an dem er gerade schreibt. Darin behauptet er zum
Beispiel, dass Alexander wüste Orgien gefeiert habe und ständig betrunken
gewesen sei. Oft soll er sich wie Herakles ausstaffiert haben, mit Löwenfell
und Keule, oder mit göttlichen Insignien wie den Widderhörnern des Zeus Ammon
oder den geflügelten Sandalen des Hermes. Angeblich hat er sich auf der Jagd
manchmal sogar als die Göttin Artemis verkleidet, mit einem goldenem
Jagdbogen.“
„Ungeheuerlich! Zu solchen Ausschweifungen hätte Alexander
sich niemals hergegeben!“, rief Barsine.
„Niemals!“, beteuerte Paruschjati im Brustton der
Überzeugung. In Bezug auf Herakles war sie nicht so sicher, aber die übrigen
Kostümierungen waren reine Erfindung.
„Doch das ist noch nicht das Schlimmste“, fuhr Nikobule
fort. „Ephippos behauptet, dass Alexander jähzornig und gewalttätig gewesen
sei, seine Umgebung habe in ständiger Angst vor seinen Gewaltausbrüchen gelebt.
Niemand sei seines Lebens sicher gewesen.“
Wieder wechselte Paruschjati einen Blick mit Barsine, dann
sagte sie: „Wenn du willst, kann ich dir Informationen für das Buch deines
Bruders geben, Nikobule, zum Beispiel über das Gastmahl bei Medios. Ich habe
sie aus erster Hand, von Eumenes, dem Kanzleichef, und dem Arzt Philippos, der
auch mich behandelt hat. Beide waren an dem Abend persönlich zugegen.“
„Ich hatte gehofft, dass du mir helfen kannst“, gab Nikobule
mit einem Lächeln zu und zückte die Schreibtafel, die sie offenbar zu genau
diesem Zweck mitgebracht hatte.
Paruschjati gab wieder, was Eumenes und Philippos ihr
berichtet hatten: dass Alexander auf dem Bankett keineswegs zusammengebrochen
sei, sondern es auf eigenen Füßen verlassen hatte. Nikobule machte sich fleißig
Notizen, sie hakte verschiedentlich nach und bat Paruschjati um ihre Meinung zu
Einzelheiten, die sie aus anderen Quellen erfahren hatte. Schließlich klappte
sie ihre Tafel wieder zusammen und bedankte sich.
„Besteht eigentlich die Chance, deinen Bruder einmal
persönlich kennen zu lernen?“, fragte Barsine.
„Ich fürchte nein.“ Plötzlich wirkte Nikobule verlegen.
„Kleitarchos ist sehr zurückhaltend, ein typischer weltfremder Künstler eben.
Deshalb übernehme ich alles Geschäftliche für ihn. Darf ich dich vielleicht
etwas Persönliches fragen?“
„Gern.“
„Ihr beide, du und Paruschjati, ihr seid Perserinnen, aber
manchmal wirkt ihr so … so griechisch, wenn ihr versteht, was ich meine. Ihr
sprecht Griechisch ohne jeden Akzent, ihr kennt euch in der griechischen
Literatur aus, und du, Barsine, bist meistens sogar griechisch gekleidet. Wie
kommt das?“
„Ganz einfach“, antwortete Barsine. „Ich bin zur Hälfte
Griechin. Meine Mutter stammt aus Rhodos. Ich bin zweisprachig aufgewachsen und
habe eine griechische Erziehung genossen. Als Mädchen verbrachte ich sogar
einige Zeit in Makedonien. Ich war mit zwei Griechen verheiratet, und meine
Kinder tragen griechische Namen.“
„Fühlst du dich mehr als Griechin oder als Perserin?“
„Ich habe gelernt, aus beiden Welten das Beste für mich zu
wählen. Deshalb ist es für mich kein Widerspruch, Perserin und zugleich
Griechin zu sein. Viele Menschen am Hof verstehen das nicht. Sie verachten mich
als Verräterin, und das tut mir weh. Denn obwohl ich äußerlich so griechisch
wirke, habe ich niemals meine persischen Wurzeln vergessen.“
„Ich dagegen war schon zehn oder elf, als ich mit der
griechischen Kultur in Berührung kam“, erzählte Paruschjati. „Das war während
des Krieges, und während der König den Osten eroberte, erhielt ich in Susa
Unterricht in allem, was zu einer griechischen Erziehung gehört.“
„Soweit ich weiß, gilt das auch für die anderen persischen
Mädchen, die in Gefangenschaft geraten sind“, bemerkte Nikobule nachdenklich.
„Aber keine der Frauen, die ich bisher kennen gelernt habe, hat sich der
fremden Kultur so weit geöffnet wie du.“
„Für mich hat sich in Susa eine ganz neue Welt erschlossen“,
stimmte Paruschjati zu. „Ich stellte fest, dass die Welt der Griechen in vielem
ganz anders ist als die persische. Zugleich aber fand ich sie ungeheuer
faszinierend und erkannte, welche Bereicherung sie für das Leben sein kann.
Nicht nur für die Griechen, sondern für alle Menschen.“ Sie lachte unsicher,
verlegen wegen ihrer hochtrabenden Worte.
„Fühlst du dich eigentlich noch als
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