Die Perserinnen - Babylon 323
Himmelsrichtungen in diese Stadt kommen und hier ein neues
Leben beginnen.“
Babylon, 5. Panemos
In der Nacht hatte sich das Gewitter endlich entladen. Seit
Tagen, seit dem Tod des Königs, hatten die Wolken wie ein alles erstickendes
Leichentuch über der Stadt gehangen, doch das Unwetter wollte nicht kommen. Diese
Nacht war es endlich so weit gewesen. Stundenlang hatte Wetterleuchten am
westlichen Horizont gezuckt, dann brachen Blitz und Donner vom Himmel herab und
schließlich ein sturzflutartiger Regen. Er hatte den Staub aus der Luft
gewaschen und die drückende Hitze vertrieben. Am Morgen war der Himmel wieder
klar gewesen, und die Luft war frisch wie schon lange nicht mehr.
Der Wagen kam nur im Schneckentempo voran. Paruschjati zog
die Vorhänge ein wenig zur Seite und sah hinaus, in der Hoffnung, einen Blick
auf die Löwenprozession werfen zu können, die als Relief aus glasierten Ziegeln
auf den Mauersockeln zu beiden Seiten der Straße dahinzog. Schon als Kind hatte
sie diese Löwen geliebt, doch heute waren sie vor Menschen nicht zu sehen.
Babylons prachtvolle Prozessionsstraße war an diesem Tag hoffnungslos
überfüllt. Anscheinend war die halbe Stadt auf den Beinen, um das kommende
Schauspiel mitzuverfolgen.
Das Stimmengewirr rief eine Erinnerung in Paruschjati wach.
Etwas, wovon sie in der Nacht geträumt hatte. Sie schloss die Augen. Schwarz
verbrannte Erde. Der beißende Gestank von Rauch. Wo war sie gewesen? Wieder in
Assyrien, kurz vor der Schlacht am Haus des Kamels? Nein, sie war irgendwo am
Meer gewesen. Im Traum hatte sie versucht herauszufinden, wo sie war, doch so
sehr sie sich auch angestrengt hatte, es war ihr nicht gelungen. Erst jetzt
fand sie die Antwort: Alexandreia. Sie war in Alexandreia gewesen. Und auch
Hephaistion war da gewesen. Wieder sah sie sein Gesicht, er lächelte ihr zu und
sagte etwas … Ich war damals noch ein Kind, dachte sie, ich war ein
bisschen in ihn verliebt, das war alles. Auch später kannte ich ihn kaum. Jetzt
ist er tot und begraben. Warum träume ich immer noch von ihm?
Am Haus des Kamels, erinnerte sie sich, und auch noch lange
danach hatte sie geglaubt, dass das Ende der Welt gekommen war – der Welt, wie
sie sie kannte. Doch irgendwie war das Leben weitergegangen. Altes war
vergangen, Neues entstanden. Vielleicht hatte sie deshalb von Alexandreia
geträumt. Damals hatte es noch Hoffnung gegeben, Hoffnung auf einen Neuanfang …
Sie öffnete die Augen und zog die Vorhänge wieder zu.
„Ich nehme an, du hast ebenfalls einen solchen Brief
erhalten“, sagte Barsine und schob ihr eine Schriftrolle herüber.
Paruschjati warf einen kurzen Blick auf das erbrochene
Siegel, ehe sie das Schreiben überflog. Sie kannte den Inhalt bereits, denn sie
hatte tatsächlich am Morgen einen ähnlichen Brief erhalten. Raukschana hatte
ihn überbringen lassen, zusammen mit einer Einladung zu einem Fest, das am Abend
in ihren neuen Räumen im Alten Palast stattfinden sollte.
Nach der heutigen Zeremonie würden endlich wieder Frieden
und Eintracht einkehren, hatte Raukschana über ihren Eunuchen ausrichten
lassen, nicht nur in der Armee, sondern auch am Hof. Zwischen den Frauen des
Königs habe es Missverständnisse gegeben, und sie, Raukschana, wolle die
allgemeine Versöhnung dazu nutzen, mit ihren königlichen Schwestern Frieden zu
schließen. Zumal Angelegenheiten von dynastischer Bedeutung zu besprechen seien
– hierzu ließ sie auf das Schreiben verweisen, das der Eunuch überbrachte.
Es trug das Siegel des Königs. In knappen Worten forderte er
seine Frauen auf, im Falle seines Todes in Frieden und Eintracht miteinander zu
leben. Sollte Raukschana wider Erwarten nicht einem gesunden Sohn das Leben
schenken, sollten sie gemeinsam über die Thronfolge beraten. Hierfür habe er
Raukschana schriftliche Instruktionen hinterlassen. Raukschana behauptete, vier
solcher Briefe erhalten zu haben mit dem Auftrag, zu gegebener Zeit den an sie
selbst gerichteten zu öffnen und die übrigen drei mit unversehrtem Siegel an
die anderen Königsgemahlinnen weiterzuleiten. Paruschjati entfuhr ein
verächtliches Lachen, als sie die Rolle in ihren Schoß legte.
„Du hast sicher nicht vor, die Einladung anzunehmen?“,
fragte sie.
„Ich bin nicht lebensmüde“, erwiderte Barsine.
Frataguna schnappte sich den Brief und sah hinein. „Es ist
genau das gleiche Schreiben, das auch du erhalten hast.“
„Raukschana muss uns für sehr naiv halten, wenn sie
erwartet, dass wir
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