Die Pestmagd
einfach in den kalten Regen hinauszulaufen und diese Schrecknisse, diese Pein, dieses sinnlose Sterben für immer hinter sich zu lassen.
Doch wie weit würde sie kommen, eine Frau, die es wagte, sich durch Flucht dem Urteil des Allmächtigen zu entziehen? Wenn man sie aufgriff, wäre sie verloren. Der Galgen wartete noch immer auf sie, das vergaß sie niemals.
Aber starb sie nicht auch hier – jeden Tag ein klein wenig mehr?
Johanna lehnte die Stirn an den Türrahmen, um nicht allen Mut zu verlieren. Wenigstens gab es eine junge Seidenweberin, deren Beulen so reif schienen, dass sie womöglich von selbst aufgehen würden, und einen älteren Mann, bei dem Vincent demnächst versuchen wollte, sein Messer anzusetzen.
Schon wieder Vincent!
Es missfiel Johanna, wie häufig sie inzwischen an ihn denken musste, auch bei den niedrigsten Arbeiten. Er hat dich verraten, als du ihn am dringendsten gebraucht hättest, sagte sie sich, während sie im Hof einen Holzstoß schichtete, um die Wäsche zu verbrennen. Ohne ein Wort, ohne eine Erklärung ist Vincent damals verschwunden, hat dich dem Oheim und seiner kalten Rache überlassen, gegen die du machtlos warst – vergiss das niemals!
Wieder sah sie sich in der alten Fischerhütte kauern, die plötzlich der Oheim betrat und nicht der Geliebte, auf den sie stundenlang vergeblich gewartet hatte.
» Er kommt nicht mehr, dein feiner Student«, hatte der Oheim mit schmalem Lächeln gesagt. » Basel hat er den Rücken gekehrt und dich vergessen. In der nächsten Stadt wartet schon das nächste Liebchen, so sind sie, diese jungen Tunichtgute, die jedem Rock hinterherrennen, wenn er sich nur schnell genug hebt. Wirst du jetzt endlich wieder Vernunft annehmen? Hermann will dich noch immer zur Frau. Darüber solltest du glücklich und dankbar sein!«
Fassungslos war sie ihm in sein düsteres Haus gefolgt, wie betäubt, weil ihr Herz sich noch immer weigerte anzunehmen, was ihr Kopf längst begriffen hatte.
Vincent war fort.
Sie hatte ihn verloren. Und wusste nicht einmal, weshalb. Das war, bevor die Zeit begonnen hatte, ihr aus den Händen zu gleiten, schnell wie ein Fuchs in der Nacht …
Mit aller Macht zwang Johanna sich in die Gegenwart und den nebeligen Novembertag zurück. Das Feuer war inzwischen stark genug, um die ersten Wäschestücke darauf zu legen. Sobald sie endlich frisches Stroh bekamen, würde sie das alte ebenfalls in die Flammen werfen. Gierig fraß das Feuer sich durch den Stoff, während dichter, dunkler Rauch aufstieg und es widerlich zu stinken begann.
Sie trat ein paar Schritte zurück und versuchte, nur noch ganz flach zu atmen. Ganz gezielt hatte der Maskenmann zugegriffen, als ob er es einzig und allein auf den Verschlag abgesehen hätte. Nichts sonst im Haus schien ihn interessiert zu haben. Was konnte er mit der verseuchten Wäsche anfangen, außer sich selbst die Pest zu holen – und wer wollte das schon?
Aber er hatte eine Maske getragen und Handschuhe. Er war also vorbereitet gewesen, wusste offenbar, worauf er sich einließ, wenn er mit den Sachen hantierte. Was nur den Schluss zuließ, dass das Sudelzeug nicht für ihn bestimmt war, sondern für andere.
Handelte er aus eigenem Impuls oder hatte jemand ihn geschickt? Dieser Gedanke war so abenteuerlich, dass Johanna ihn zunächst wieder verwarf. Doch er hatte sich in ihrem Kopf festgesetzt und ließ sich nicht mehr daraus vertreiben, auch nicht, als sie später das Fleisch schabte, das sie den Kranken als zusätzliches Stärkungsmittel in die Suppe gaben.
» Bald werden wir sie mit Mäusekot füttern müssen«, sagte Grit anklagend. » Und auch für uns wird nichts anderes mehr übrig bleiben. Seit drei Tagen hat der Baderknecht sich nicht mehr sehen lassen. Denkt er vielleicht, wir können vom Beten und Büßen satt werden?«
Sie hatte recht. Die Vorräte gingen zur Neige – und keine von ihnen durfte nach draußen, um sie wieder aufzustocken.
Was, wenn sie hier inmitten der Pestkranken verhungerte?, fragte sich Johanna. Würde das dann als Gottesurteil ausgelegt werden, das ihre Schuld bewies?
» Weißenburg lässt uns nicht im Stich«, sagte sie um einiges zuversichtlicher, als ihr tatsächlich zumute war. » Er hat kein schlechtes Herz – und außerdem braucht er uns.«
» Sei dir da bloß nicht zu sicher«, sagte Marusch höhnisch. » Was sind wir schon wert? Nichts, gar nichts! Hab ein Mäuslein husten hören, es soll ihm selbst schlecht gehen. Da vergisst man solche wie uns
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