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Die Pfeiler der Macht

Die Pfeiler der Macht

Titel: Die Pfeiler der Macht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Daher fiel auch niemandem außer ihr die kleine schmutzige Hand auf, die in die Westentasche des Mannes schlüpfte.
    Maisie hatte nicht die geringste Absicht, einzuschreiten. Ihrer Überzeugung nach geschah es wohlhabenden, sorglosen jungen Männern nur recht, wenn sie ihre Taschenuhren verloren, und ein kühner Dieb verdiente seine Beute. Doch als sie sich das Opfer näher ansah, erkannte sie das schwarze Haar und die blauen Augen Hugh Pilasters. Hatte April nicht erzählt, daß Hugh kein Geld hatte? Er konnte es sich nicht leisten, seine Uhr zu verlieren. Spontan entschloß sich Maisie, ihn vor den Folgen seiner Unachtsamkeit zu bewahren. Rasch lief sie um die Menge herum nach hinten. Der Taschendieb war ein verwahrlost aussehender Junge mit rotblondem Haar. Er ist ungefähr elf, dachte sie - ungefähr so alt wie ich, als ich damals von zu Hause weglief . . . Mit großem Fingerspitzengefühl zog der Junge Hugh die Uhrkette aus der Weste. Als die Zuschauer bei einer besonders komischen Szene vor Lachen schrien, machte sich der Taschendieb mit der Uhr in der Hand davon. Maisie packte ihn am Handgelenk.
    Der Junge stieß einen kurzen Angstschrei aus und versuchte sich ihrem Griff zu entwinden, aber Maisie war zu stark für ihn. »Gib mir die Uhr, dann verrate ich dich nicht«, raunte sie ihm zu. Der Junge zögerte einen Augenblick. Maisie sah, wie in seinem verdreckten Gesicht Angst und Gier miteinander im Streit lagen. Schließlich behielt eine Art trauriger Resignation die Oberhand, und er ließ die Uhr zu Boden fallen.
    »Verdufte und klau dir eine andere«, sagte Maisie. Sie gab seine Hand frei, und ehe sie sich's versah, war er verschwunden. Sie hob die Uhr auf. Es war eine goldene Jagduhr mit Sprungdeckelgehäuse. Maisie öffnete sie und sah auf das Zifferblatt. Es war zehn Minuten nach drei. Auf der Rückseite war eine Widmung eingraviert:
     
    Für Tobias Pilaster
    von deiner dich liebenden Gemahlin
    Lydia
    den 23. Mai 1851
     
    Hughs Mutter hatte die Uhr einst seinem Vater geschenkt. Maisie war jetzt froh, daß sie das gute Stück für ihn gerettet hatte. Sie schloß den Deckel und tippte Hugh auf die Schulter. Sichtlich empört über die Störung, drehte Hugh sich um. Seine leuchtendblauen Augen weiteten sich. »Miss Robinson!«
    »Wieviel Uhr ist es?« fragte Maisie.
    Hugh griff automatisch nach seiner Uhr und stellte fest, daß seine Westentasche leer war. »Merkwürdig ...« Er sah sich um, ob sie ihm vielleicht aus der Tasche gefallen war. »Ich hoffe, ich habe sie nicht . . .«
    Maisie hielt ihm die Uhr vor die Nase.
    »Herr im Himmel!« rief er aus. »Wo in aller Welt haben Sie sie gefunden?«
    »Ich bekam zufällig mit, wie ein Taschendieb Sie beraubte - und nahm ihm die Uhr wieder ab.«
    »Wo ist der Kerl?«
    »Ich habe ihn laufen lassen. Es war ein kleiner Junge.«
    »Aber ...« Ihm fehlten die Worte.
    »Ich hätte ihn auch mit der Uhr laufen lassen, wenn mir nicht bekannt gewesen wäre, daß Sie sich keine neue leisten können.«
    »Das ist doch nicht Ihr Ernst!«
    »Und ob! Ich habe als Kind ja selbst jede Gelegenheit zum Stehlen genutzt.«
    »Wie schrecklich!«
    Maisie spürte, daß sie drauf und dran war, sich schon wieder über ihn zu ärgern. Seine Einstellung, fand sie, verriet eine gewisse Scheinheiligkeit. »Ich erinnere mich an die Beerdigung Ihres Vaters«, sagte sie. »Es war ein kalter, regnerischer Tag. Als Ihr Vater starb, schuldete er meinem Vater Geld - aber Sie trugen damals einen Mantel und ich nicht. Ich besaß nicht einmal einen. War das gerecht?«
    »Das weiß ich nicht«, erwiderte er heftig. »Ich war dreizehn, als mein Vater Bankrott machte - muß ich deshalb mein Leben lang jede Niedertracht widerspruchslos hinnehmen?« Maisie war bestürzt. Es kam nur selten vor, daß ein Mann sie so anfuhr. Bei Hugh geschah es jetzt bereits zum zweitenmal. Aber sie wollte sich nicht schon wieder mit ihm streiten. Sie berührte seinen Arm. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich wollte Ihren Vater nicht kritisieren. Ich wollte Ihnen nur erklären, warum Kinder zu Dieben werden können.«
    Hugh war sofort besänftigt. »Und ich habe mich noch nicht dafür bedankt, daß Sie mir meine Uhr zurückgebracht haben. Sie war das Hochzeitsgeschenk meiner Mutter an meinen Vater und ist praktisch unersetzlich.«
    »Und der kleine Lauser wird schon bald einen anderen Idioten finden, den er bestehlen kann.«
    Hugh lachte. »So eine wie Sie ist mir noch nie begegnet«, sagte er.
    »Darf ich Sie zu einem

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