Die Pfeiler der Macht
ein schlechter ... Sie überlegte und überlegte, aber ihr fiel nichts Brauchbares ein.
»Tonio hat eine Schwäche«, sagte Micky versonnen. »Ach ja?«
»Er ist ein schlechter Spieler. Geht riskantere Wetten ein, als er sich leisten kann. Und verliert dann oft.«
»Vielleicht kannst du ihn zu einem Spiel verleiten?«
»Vielleicht ...«
Vielleicht ist Micky ein Falschspieler, schoß es ihr durch den Kopf. Sie konnte ihn allerdings nicht direkt danach fragen - ein Gentleman mußte allein schon den Verdacht als tödliche Beleidigung auffassen.
»Es kann teuer werden«, sagte Micky. »Könnten Sie mir eventuell unter die Arme greifen?«
»Wieviel brauchst du?«
»Hundert Pfund, fürchte ich.«
Augusta zögerte keine Sekunde - schließlich ging es um Teddys Leben. »In Ordnung«, sagte sie. Stimmen im Haus verrieten ihr, daß andere Teestundengäste eintrafen. Sie stand auf. »Was wir gegen Hugh unternehmen können, weiß ich noch nicht«, setzte sie besorgt hinzu. »Ich muß darüber nachdenken. Aber jetzt müssen wir ins Haus.«
Sie hatten kaum die Schwelle überschritten, als Madeleine, Augustas Schwägerin, auch schon auf sie einzureden begann. »Diese Schneiderin treibt mich noch zum Wahnsinn! Zwei Stunden hat sie gebraucht, um einen Saum abzustecken. Ich lechze nach einer Tasse Tee - ach, du hast tatsächlich schon wieder diesen himmlischen Mandelkuchen ... Du meine Güte, ist es nicht furchtbar heiß heute?«
Augusta drückte verschwörerisch Mickys Hand. Dann nahm sie
Platz und schenkte ihren Gästen Tee ein.
4. Kapitel
August 1873
In London war es heiß und stickig, und die Bevölkerung sehnte sich nach frischer Luft und weiter offener Landschaft. Am ersten August strömte alles mit Kind und Kegel zu den Rennen in Goodwood.
Man reiste in Sonderzügen, die am Victoria-Bahnhof im Süden Londons bereitgestellt wurden und ein getreues Spiegelbild der im Lande herrschenden Klassengesellschaft boten: Die oberen Zehntausend reisten in den gepolsterten Luxusabteilen der Erste- Klasse-Waggons. Ladenbesitzer und Lehrer saßen gedrängt, aber noch einigermaßen bequem, in der zweiten, und die Fabrikarbeiter und Hausangestellten hockten dicht an dicht auf den harten Holzbänken der dritten Klasse. Am Zielbahnhof stiegen die Aristokraten in Kutschen und die Vertreter der Mittelklasse in Pferdebusse um. Die Arbeiter gingen zu Fuß. Was die Reichen brauchten, hatten sie mit früheren Zügen vorausschicken lassen: Auf den Schultern stämmiger Bediensteter wanderten Dutzende von Tragekörben, randvoll mit Porzellan und bestem Tischleinen, mit gekochtem Huhn und Gurken, Champagner und Treibhauspfirsichen, zu den Picknickplätzen. Die weniger Betuchten verpflegten sich an Würstchen-, Fisch- und Bierbuden, und die Armen griffen zu Brot und Käse, die sie, in Taschentücher gewickelt, von zu Hause mitgebracht hatten.
Maisie Robinson und April Tilsley fuhren mit Solly Greenbourne und Tonio Silva nach Goodwood. Ihre unterschiedliche Stellung innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie stellte ein kleines Problem dar. Solly und Tonio waren eindeutig Passagiere der ersten Klasse, während Maisie und April eigentlich mit der dritten hätten vorliebnehmen müssen. Solly fand einen Kompromiß, indem er für alle Fahrkarten zweiter Klasse löste. Den Weg über die Hügel bis zur Rennbahn legten sie im Pferdebus zurück. Sollys Liebe zu gutem Essen erwies sich allerdings als stärker denn die Bereitschaft, mit dem kargen Angebot einer Würstchenbude vorliebzunehmen. Er hatte daher vier Diener mit einem üppigen Lachspicknick und eisgekühltem Weißwein vorausgeschickt. Sie breiteten ein schneeweißes Tischtuch auf d e m Boden aus und setzten sich drumherum auf den federnden grünen Rasen. Maisie fütterte Solly mit kleinen Häppchen. Er wurde ihr immer sympathischer, ja, sie hatte ihn richtig liebgewonnen. Solly war ein witziger, unterhaltsamer Mann, der für jeden Menschen ein freundliches Wort übrig hatte. Sein einziger Fehler war seine Gefräßigkeit. Maisie hatte ihm bisher noch nicht erlaubt, mit ihr zu schlafen, doch je länger sie seinem Drängen widerstand, desto stärker schien seine Anhänglichkeit zu wachsen. Die Rennen begannen nach dem Mittagessen. Ganz in der Nähe stand ein Buchmacher auf einer Kiste und rief die Gewinnchancen aus. Er trug einen auffallenden Anzug mit Schachbrettmuster, eine lange Seidenkrawatte, auf dem Kopf einen weißen Hut und im Knopfloch einen Zweig mit vielen großen Blüten.
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