Die Pfeiler des Glaubens
Bibliothek.
Schließlich stand er an den unteren Treppenstufen des Minaretts. Es war ein schlichter, schmaler quadratischer Turm, in dem um einen Mittelpfeiler herum eine Treppe nach oben führte. Offenbar kam hier nur selten jemand vorbei, überall lag Staub. Hernando stieg die Treppe hoch – immer mit einer Hand am Mittelpfeiler. Einige Steine waren locker. Vielleicht könnte er … Geduldig tastete er einen Stein nach dem anderen ab. Plötzlich, etwa auf halber Höhe des Minaretts, gab einer der Ziegel etwas nach. Hernando führte den Leuchter näher heran: Nicht nur ein einzelner Stein, nein, eine ganze Reihe schien hier lose. Was war das? Eine kleine Geheimtür, die unter dem Druck seiner Hand sofort nachgab! Dahinter befand sich ein Hohlraum.
Er leuchtete mit zitternden Händen hinein und entdeckte eine alte kleine Truhe: Mehr passte auch gar nicht in diese enge Nische. Die Truhe war mit Leder bezogen und mit Eisenbändern beschlagen. Sie glich keiner der Schatullen im Palast … Hernando zog das kleine Kästchen heraus, kniete sich auf eine Treppenstufe und stellte den Leuchter neben sich: Der Lederbezug war überraschend kunstvoll gearbeitet, und zwischen verschiedenen Pflanzenornamenten entdeckte er … ein Alif. Es konnte nur ein Alif sein!
Er wischte den Staub ab und musste husten. Dann hielt er die freigelegten Ornamente noch näher an den Leuchter und fuhr mit den Fingerkuppen über die abgegriffenen Schriftzeichen.
»Muhammad … Abi Amir.« Al-Mansur! Hernando erstarrte. Das Kästchen stammte aus der Zeit des Umayyaden-Herrschers al-Mansur! Hernando überlegte, wie er das Kästchen öffnen könne.
Er betrachtete das Schloss, das zwei Eisenbänder miteinander verband, die quer über die kleine Truhe liefen. Er strich ehrfürchtig mit den Fingern darüber. Da löste sich – mit einem leisen Reißen – auf einmal erst das eine, dann das andere Eisenband vom Lederbezug. Hernando hielt verblüfft Schloss und Eisenbänder in der Hand. Er zögerte einen Augenblick. Dann hob er den Deckel der kleinen Truhe feierlich an.
Als er hineinblickte, sah er darin mehrere arabische Bücher.
45
C esare Arbasia lebte allein in einem Haus in der Nähe der Mezquita. Er hatte Hernando zum Abendessen eingeladen und ausschließlich Speisen zubereiten lassen, die weder Speck noch Steckrüben und Karotten enthielten, die Muslime als Schweinefutter verachteten.
»Den Hammel konnte ich leider nicht nach euren Gesetzen schlachten lassen«, entschuldigte sich der Maler, während sie auf der Galerie über dem gepflegten Patio bei einem Becher Limonade beisammensaßen.
»Wir müssen schon seit Längerem auf unsere Speisevorschriften verzichten. Aber wir halten uns an die Taqiyya. Gott wird dafür Verständnis haben. Nur noch unsere Glaubensbrüder, die in abgelegenen Bauernhöfen leben, können manchmal unseren Schlachtritus ausüben.«
Die beiden Männer sahen sich an und schwiegen. Es war ein lauer Frühlingsabend, und der Duft der Blumen stieg zu ihnen empor. Hernando nahm einen Schluck Limonade und ließ sich von dem Gerüchen bezaubern, die ihn so sehr an einen anderen Patio erinnerten … und an das Lachen seiner Kinder.
An diesem Morgen war ihm auf dem Fresko mit dem heiligen Abendmahl, das Arbasia in der Capilla del Sagrario zuletzt gemalt hatte, ein Gesicht aufgefallen. Hernando hatte seinen Blick nicht von jener Figur abwenden können, die links vom Herrn saß und von diesem umarmt wurde. Diese Gestalt sah aus wie … eine Frau!
»Ich muss mit dir reden«, hatte er nur gesagt und die weibliche Gestalt weiterhin verwundert betrachtet.
»Einverstanden. Aber nicht hier«, hatte der Maler nur geantwortet und ihn erstmalig zu sich nach Hause eingeladen.
Das Wasser plätscherte im Brunnen, und sie plauderten eine Weile über belanglose Dinge, bis der Meister schließlich die Initiative ergriff.
»Worüber wolltest du mit mir sprechen? Geht es um das Fresko?«
»Ja. Ich dachte immer, beim letzten Abendmahl seien nur die zwölf Jünger dabei gewesen. Wer ist diese Frau, die Jesus umarmt?«
»Das ist der heilige Johannes.«
»Aber …«
»Glaub mir, es ist der heilige Johannes.«
»Also gut, wenn du das sagst«, gab Hernando nach. »Ich wollte ohnehin etwas anderes mit dir besprechen: Vor etwa einem Monat habe ich im ehemaligen Minarett des Palastes einige alte Abschriften gefunden – zusammen mit einem Schreiben des Kopisten. Sie stammen aus der Zeit von al-Mansur, der damals für den noch minderjährigen
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