Die Pferde vom Friesenhof 02 - Wilde Jagd am Meer
erfindungsreich. Jette nahm sofort die Spur auf, wenn es etwas zu verfolgen gab. Sie wollte später zur Polizei, das war ihr sehnlichster Wunsch. Jette besaß noch einen weiteren Vorzug - und das war ihr Elternhaus. Sie wohnte im »Wattenkrug«, dem Wirtshaus am Deich. Im Gastraum brodelte ständig die Gerüchteküche und man flüsterte sich sämtliche Neuigkeiten zu. Wollte man etwas über Fremde erfahren, gab es keine bessere Adresse. Falls sich ein zweifelhafter Mann in Westerbüll herumtrieb, wusste man das zuerst im Wattenkrug. Charlotte war einverstanden und sie riefen auf der Stelle im Wattenkrug an.
Jette Jacobs regte sich furchtbar auf. Über den Einbruch und den Erpresser. Besonders aber darüber, dass sie nicht eher informiert worden war.
Gleich am nächsten Morgen wollte Jette auf den Friesenhof kommen. Vor dem Frühstück. Aber dann erschien sie doch noch am selben Abend. Kurz nach dem Anruf ereignete sich nämlich etwas, das sofortiges Handeln verlangte.
Es passierte in der Sattelkammer. Wie jeden Abend räumten Lea und Charlotte das Pferdezubehör auf, sahen nach, ob Lederteile oder Schnallen beschädigt waren, und prüften die Steigbügelriemen. Die Stunde, in der die anderen Mädchen duschten und sich fürs Abendbrot umzogen, war für Lea und Charlotte die schönste im Stall. Sie waren ganz allein. Durch die Fenster fiel die niedrige Sonne und malte Kringel aufs Stroh. Die Pferde standen noch auf der Weide. Sie wurden erst kurz vor Sonnenuntergang hereingeholt.
Der kleine Raum am Ende des Stalls besaß nur eine schmale Tür zur Stallgasse, die weit offen stand.
Lea schaltete die Leuchtröhre in der fensterlosen Sattelkammer an. Zwar fiel ein wenig Licht vom Gang herein, aber zum Aufräumen war es zu dunkel.
»Das Zaumzeug hängt mal wieder kreuz und quer«, beschwerte sich Charlotte und nahm drei vertauschte Trensen vom Haken. »Manche lernen es nie.«
Lea bückte sich über einen Sattel und zog die verdrehten Riemen im Steigbügel zurecht. »Da sprichst du wahre Worte aus ...«
Hinter ihrem Rücken fiel die Tür ins Schloss.
»Lass die Tür lieber auf, sonst wird es zu stickig«, sagt Lea. Nein, sie sagt es nicht. Sie will es sagen, aber der Satz erstirbt ihr in der Kehle. Denn als sie sich umdreht, sieht sie genau in das Gesicht ... einer grinsenden Riesenratte. Wie vom Blitz getroffen zuckt Lea zusammen. »Vanessa?«, flüstert sie mit bebender Stimme. »Das ist nicht witzig!« Dann erkennt sie, dass kein Kind unter der widerlichen Gummimaske steckt, sondern ein Erwachsener.
»Hilfe«, wimmert Lea. Das Wort erstickt in ihrem trockenen Hals und kommt nur als Krächzen heraus. Jetzt erst wird Charlotte aufmerksam. »Was ist los?« Sie dreht sich um - und prallt zurück. Die Farbe weicht aus
ihrem Gesicht. Mit eiskalten Fingern umklammert Charlotte die Trense, die sie in der Hand hält. Sofort ahnt sie, wer vor ihr steht: der Kidnapper.
Die grinsende Ratte packt Charlotte grob am Arm und zerrt sie zu sich herüber. »Komm mit«, knarzt die Stimme aus der Rattenmaske. »Los!«
Regungslos steht Charlotte vor dem Zaumzeug. Sie folgt dem schroffen Befehl nicht, kann es gar nicht, selbst wenn sie wollte. Ihre Beine fühlen sich an wie Beton, verweigern den Gehorsam. Auch Lea ist wie gelähmt. Die grinsende Ratte fasst Charlotte hart an, schleift sie zur Tür. Von der Weide dringt lautes Wiehern herüber. Für Charlotte klingt es wie: Du bist nicht allein!
Endlich löst sich ihre Starre. Jetzt kann sie sich wehren. Mit aller Macht tritt Charlotte dem Mann mit der Stiefelspitze in die Waden.
»Du Miststück!«, schreit die Ratte und zuckt vor Schmerz zusammen. Trotzdem lässt der Maskierte Charlotte nicht los.
Da kehren auch Leas Lebensgeister zurück. Tausend Gedanken schießen ihr durch den Kopf. Schnell, du musst schnell handeln, fordert ihr Verstand. Ohne länger zu überlegen, greift sie nach einem vergessenen Reitstiefel neben sich. Lea holt aus, zielt auf die Leuchtröhre an der Decke und schleudert das Ledergeschoss hoch.
Ein greller Blitz, Klirren. Dann ist es dunkel. Der Stiefel fällt herab, rechts und links von Splittern umgeben. »Hilfe!«, schreit Lea. »Hilfe! Hilfe!«
Dabei weiß sie genau, niemand kann sie hier hören. Aber das ahnt der Unbekannte nicht. Leas Schreien hat Erfolg. Fluchend lässt die Ratte Charlotte los, reißt die Tür auf und flüchtet nach draußen.
Charlotte sinkt auf einen Sattelbock. Kalte Schweißperlen stehen auf ihrer Stirn.
Lea atmet hektisch,
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