Die Pferde vom Friesenhof 03 - Flucht bei Nacht und Nebel
sechzehn voller Träume und Pferdeliebe in den Beruf gegangen. Vorbei... Thiessen verscheuchte die Gedanken, als er jetzt vor Tipos Box stehen blieb. Der wird es auch nicht schaffen, dachte Thiessen und beobachtete, wie sich das Pferd in die Ecke verkroch. Viel zu empfindsam. Einer wie Tipo brauchte Ferien vom Rennbahnstress. Freundliche Menschen. Geduld. Aber wer will schon einen verstörten Traber?
Nachmittags erschien Lutz Galle auf der Rennbahn und ließ sich Tipos Trainingszeiten geben. Klara bekam mit, dass Trainer Thiessen von »Herantasten an die richtige Dosierung« sprach. Damit konnte er nur das Beruhigungsmittel meinen.
Dann schnappte Klara einen Satz von Galle auf, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ: »Darauf kann ich nicht warten, der kommt auch weg.«
Als Galle gegangen war, schlüpfte Klara schluchzend in Tipos Box und wollte ihn umarmen. Furchtsam drückte sich der Traber an die Wand und duldete nicht, dass sie ihn berührte. Klara redete leise auf ihn ein, dabei musste sie immer wieder schluchzen. Tipo behielt das Mädchen fest im Blick und legte den Kopf schief.
Klara schien es, als versuchte Tipo ihre Worte zu verstehen. Seine Augen waren klug und jung. Kinderaugen fast, aber nicht unternehmungslustig, sondern müde und verstört.
So sah ein Pferd aus, das mit dem Leben abgeschlossen hatte. Ein Pferd, das nichts Gutes mehr erwartete. Tipos Blicke trafen Klara tief in der Seele.
Ihr Herz schlug für alle Lebewesen in Not. Sie kümmerte sich um Muli, das störrische Maultier, das als Einzelgänger schwer Anschluss fand.
Und dann war da die Friesenstute Luna. Aus Zuneigung zu ihr hatte sich Klara überreden lassen, von Hamburg nach Westerbüll umzuziehen. Luna wäre sonst an zweifelhafte Leute verkauft worden.
Und nun Tipo. Sie durfte nicht zulassen, dass er an einen skrupellosen Pferdehändler geriet. Oder dass Tipo auf der Rennbahn zuschanden trainiert wurde.
Nein, dachte sie, ich kann Tipo nicht hier lassen. Paris Proud muss auch weg von der Rennbahn. Aber wie? An den kam man fast nicht heran, weil sein Stall so gut gesichert war.
Klara seufzte und wischte sich über die Augen. Wenn Papa doch zu Hause wäre, dachte sie. Doch den würde sie heute nicht mehr zu Gesicht bekommen. Wenn sie heimkam, war er schon unterwegs nach Hamburg. Morgen ebenfalls. Das ging noch eine Weile so. Kostbare Zeit verstrich inzwischen.
Kim kam in den Stall und drückte ihre Stirn an Tipos Box. Argwöhnisch sah der Traber hoch.
»Keine Sorge, kleine Trabemase. Eine Freundin steht vor dir.« Kim lachte leise. »Du versteht jedes Wort, stimmts, Tipo? - Was ist denn mir dir los, Klara?« Die letzte Frage galt ihrer Freundin, die sie aus roten Augen nachdenklich ansah.
Klara wusste, dass sie in Kim eine Verbündete finden würde. Nach außen schien Kim zwar herb, manchmal gar abweisend, aber mit ihr konnte man Pferde stehlen. Und genau das war jetzt nötig...
Entschlossen verließ Klara die Box. »Tipo muss weg hier, Kim. Der Galle will ihn loswerden. Das habe ich vorhin gehört. Wir holen erst Tipo, danach versuchen wir es mit Paris Proud.«
Überrascht sah Kim sie an. »Weg hier? Wie stellst du dir das vor?«
»Tatsachen schaffen.« Klaras Stimme klang wieder fest. »Wenn Tipo erst bei uns auf dem Friesenhof steht, schickt Papa ihn bestimmt nicht zurück.«
Kim war skeptisch. »Wie willst du Tipo nach Westerbüll bringen? Das sind fünfzehn Kilometer. Außerdem - die schließen abends alle Ställe ab.«
Klara winkte ab. »Weiß ich. Aber Thiessens Tür hat ein altes Schrottschloss.« Sie hatte sich schon etwas ausgedacht. Heimlich wollte sie Dirk Thiessens Schlüssel in Knetgummi drücken und den Abdruck zu Niels Ingwersen bringen. Ihr DLRG-Freund konnte bestimmt einen Nachschlüssel beschaffen.
Kim fand den Vorschlag gut. In der Mittagspause besorgte Klara in Seestedt Knetgummi. Als Dirk Thiessen nachmittags zum Kaffeetrinken ins Kasino ging, holte Kim unter einem Vorwand seinen Schlüssel und machte einen Abdruck davon. Sie bewahrte die blaue Knetmasse in ihrer Butterbrotdose auf.
Abends, auf dem Heimweg, lieferte sie den Abdruck bei Niels Ingwersen ab.
Am liebsten hätte Klara die Sache mit Niels selbst besprochen. Insgeheim schwärmte sie für den blonden Sohn des Strandkorb-Vermieters und suchte jede Gelegenheit, ihn zu treffen. Aber Klara sah ein, dass sie auf dem Friesenhof einiges regeln musste.
Helles Lachen war aus dem Garten zu vernehmen, als
Klara ihr Rad am Stall abstellte.
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