Die Pforten der Ewigkeit
plötzlich Eiswasser durch seine Adern geronnen, als er beobachtet hatte, wie der schlanke Mann zuerst Abt Philipp auf die Schulter geklopft hatte, dann ein paar von den Soldaten, dann dem Cellerar, der mit heißem Würzwein gekommen war. Schließlich hatte er im Vorbeigehen auch Hildebrand auf die Schulter geklopft, der erst gemerkt hatte, dass er vor Furcht den Atem anhielt, als der schlanke Mann meinte, dass er eine ungesunde Gesichtsfarbe habe.
Wenn du Gabriel jemals triffst und es überlebst, gib mir sofort Bescheid!
Gabriel – Azrael. Auch ein dümmerer Mann als Hildebrand hätte erkannt, dass eine unheimliche Verbindung bestehen musste zwischen zwei Männern, die die Namen von Erzengeln trugen. Wie viele Engelsnamen fielen ihm noch ein? Michael. Uriel. Jophiel. Hildebrands Furcht stieg, als er sich vorstellte, dass es fünf Männer gab, die alle wie Bruder Azrael oder der schlanke, schulterklopfende Begleiter des Grafen waren und ihre Aufmerksamkeit auf Hildebrand konzentrierten.
Wenn du Gabriel jemals triffst …
Er rutschte aus und fiel hin. Als er hastig wieder auf die Beine kam, hörte sich das Scharren seiner Sandalen und seiner Hände auf dem gefrorenen Waldpfad so an wie das Kratzen der Eichhörnchenpfoten, das Azrael mit einem einzigen Schuss an den Baum genagelt hatte.
… dann bist du ein sehr totes Eichhörnchen .
Die Glocke des alten Klosterbaus dröhnte plötzlich los. Die Kälte trug den Schall so mühelos bis unter den kahlen Winterwald, dass Hildebrand meinte, direkt unter dem Glockenturm zu stehen. Er erschrak so, dass er erneut stürzte. Dann kroch er vom Pfad weg, bis er eine Stelle fand, von der aus er zum Kloster hinuntersehen konnte. Er war überzeugt, dass die Glocke ihm galt. Seine Flucht war entdeckt worden! Im nächsten Augenblick drang das heisere Bellen und das Gejaule der Hunde des Grafen von Habisburch an seine Ohren. O Gott! Sie jagten ihn mit Hunden! Die Bestien würden ihn zerfleischen!
Sein Herz trommelte nicht mehr nur, es wirbelte. Er verschluckte sich an seinem eigenen fliegenden Atem. Von seinem Aussichtspunkt konnte er den Platz vor der Klosterpforte einsehen. Die Soldaten des Grafen kletterten auf ihre Pferde, die Enge des Talbodens ließ ihre halbe Hundertschaft wie ein Heer wirken. Die Gefangenen – o Herr, richtig, der Graf hatte Gefangene mit sich geführt, von denen Hildebrand drei bekannt vorgekommen waren, ohne dass er sie hätte platzieren können –, die Gefangenen saßen bereits auf ihren Pferden, umgeben von den Männern mit dem roten Löwen auf dem Waffenrock. Wenn die Hunde ihn, Hildebrand, am Leben ließen, würde er ebenfalls ein Gefangener des Grafen sein, und Gabriel würde sich mit ihm befassen.
Wenn du Gabriel jemals triffst und es überlebst …
Langsam dämmerte ihm, dass die Soldaten dort unten keine Hetzjagd vorbereiteten, sondern den Abmarsch. Die Klosterglocke schlug auch nicht zur Hatz, sondern zum Morgengebet. Ebenso langsam kam ihm zu Bewusstsein, dass er, Hildebrand, kein Flüchtling war und dass es keinerlei Verbot gegeben hatte, das Kloster zu verlassen, dass kein Graf und kein geheimnisvoller Mann mit einem Engelsnamen ihm verbieten konnten, sich auf dem Besitz seines Klosters zu bewegen. Tatsächlich interessierte es niemanden von den Neuankömmlingen auch nur einen Deut, was der Sakristan tat oder ließ. Die Furcht, die Bruder Azraels Worte in ihm geweckt hatten, hatte sich selbstständig gemacht, das war alles. Zuletzt fiel ihm auf, dass das Vorderteil seiner Kutte nässer war, als es die beiden Stürze verursacht haben konnten, und er hörte sich selbst winseln, als ihm klar wurde, dass die meiste Nässe von innen kam.
Dann kam noch etwas mehr Nässe hinzu, als eine tote Stimme in sein Ohr flüsterte: »Ziehen die Bastarde ab?«
Er warf sich herum. Eine Tierpfote mit langen Klauen drückte ihm den Kopf nach unten in den Waldboden. »Unten bleiben!« Er roch den Bocksgestank von Bruder Azrael.
»Ja …«, gurgelte er.
Bruder Azrael entspannte sich und kroch von ihm herunter. Zusätzlich zu seiner Armbrust trug er heute eine Axt und ein Schwert, die er beide hinter den Strick gesteckt hatte, der seine Kutte zusammenhielt.
»D… der Mann … von dem du … Gabriel …«, stotterte Hildebrand.
»Ja, ja«, knurrte Azrael. »Was wollten er und der verdammte Graf hier?«
»N… N… Nachtlager.«
»Zu wievielt sind sie? Ich habe gut fünfzig gezählt.«
»Ja.«
»Und ein halbes Dutzend Gefangene?«
»Exakt.«
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