Die Phoenix-Chroniken: Asche (German Edition)
mit geballten Fäusten zu ihr umdrehte. Auch ich hatte meine Grenzen.
„Seherin“, sagte der Hexenmeister barsch. „Muss ich etwa kommen und Sie holen? Ich versprechen Ihnen, es wird Ihnen nicht gefallen.“
„Vielleicht gefällt es ihr ja doch, Meister“, sagte die Dumpfbacke, die mich geschubst hatte. „Lassen Sie sie bluten und uns dabei zusehen.“
„Jaaaa“, riefen die anderen zustimmend.
Pah. Devote Haremsdamen. Wie überflüssig.
Mit dem Handballen versetzte ich ihr einen Schlag, hängte mich richtig rein. Sie landete auf ihrem Hintern in einem Kissen- und Bissenstapel.
Darauf folgte Gekreische und Gejammer. Aber jetzt wollte sich keine mehr mit mir anlegen, also hatte ich meinen Standpunkt wohl deutlich genug gemacht.
Während ich über die sonnenüberfluteten Fliesen ging, betrachtete mich der Meister nachdenklich. Hatte ich zu fest zugeschlagen? Hegte er vielleicht den Verdacht, dass ich die Kräfte einer Seherin überschritten und mich der eines Dhampirs bedient hatte?
„Vielleicht sollten wir Sie doch am Leben lassen“, murmelte er. „Sie wären solch ein Gewinn für meine Truppe.“
„Das haben wir doch schon alles durch. Ich bin doch nicht der Duce und richte meine Fahne nach dem Wind. Wenn ich mich einmal für eine Seite entschieden habe, dann bleibe ich auch dabei.“
Sein Gesicht verfinsterte sich. Leute zu provozieren, die man lieber in Ruhe lassen sollte, war schon immer mein Problem gewesen. Nie hatte ich mich dabei beherrschen können. Wenn ich mich einer Situation nicht gewachsen fühlte oder Angst hatte, versuchte ich mir dadurch Mut zu machen, dass ich den Finger auf die Wunde legte und noch kräftig draufdrückte.
Hätte ich doch bloß mein Messer dabeigehabt, dann hätte ich die Analogie mit der Wunde gleich in die Tat umsetzen können.
Ich rechnete damit, dass er mir eine verpassen würde, dass ich quer durch den Raum segelte. So schnell wie Dumpfbacke würde ich dann allerdings nicht mehr auf die Beine kommen. Wenn ich überhaupt wieder auf die Beine käme.
„Warum müssen alle immer auf den Zweiten Weltkrieg zu sprechen kommen?“, jammerte er. „Italien hatte keine andere Wahl, als sich mit den Nazis zu verbünden. Wir waren umzingelt.“
Ich sah ihn erstaunt an. „Sie sind dabei gewesen?“
Bestimmt war das Leben in Italien während des Zweiten Weltkrieges kein Zuckerschlecken gewesen. Ich hätte gedacht, jemand wie dieser Obervampir hätte sich schleunigst aus dem Staub gemacht. Andererseits fiel sein Treiben in Zeiten der Unruhe weniger auf. Damals hatte der Meister den rechten Augenblick abgewartet, gewartet, dass…
Auf was? Dass der perfekte Moment für die Übernahme der Weltherrschaft gekommen war? Was, wenn er auf die Nazis gesetzt und sich damals mit ihnen verbündet hätte? Wahrscheinlich wären wir dann jetzt alle Deutsche.
Der Hexenmeister verschwand durch die Tür, und ich folgte ihm.
„Was halten Sie davon?“
Wir betraten das Kriegshauptquartier. Anders konnte man es wohl nicht nennen. An einer Wand hing eine riesige Weltkarte. In jedem Land – Norden, Süden, Osten, Westen – steckten Nadeln mit farbigen Köpfen. Wie ein Regenbogen war die Karte mit roten, grünen, blauen und gelben Punkten gesprenkelt.
An den Computern saßen Vampire mit Kopfhörern und plauderten munter mit irgendwelchen Informanten. Telefone läuteten, Faxgeräte summten.
„Rot ist für die Dämonenjäger“, murmelte der Meister, „Blau für die Seher.“
Stirnrunzelnd beugte ich mich vor. Etwas nördlich von Milwaukee steckte ein blauer Pin. Das war wohl ich. Gleich neben dem blauen steckten noch ein gelber und ein grüner Pin.
„Und die hier?“
„Gelb steht für einen Dämonenjäger, den wir bereits ausgelöscht haben.“
„Springboard“, flüsterte ich.
„Sehr gut.“
Nach dem grünen Pin brauchte ich gar nicht erst zu fragen.
Der stand für Ruthie.
36
W oher wissen Sie denn so gut Bescheid?“, drängte ich. „Ganz offensichtlich hat Jimmy Ihnen von Ruthie erzählt…“
Mir kamen Zweifel. Hatte er das wirklich? Jimmy hatte Ruthie ebenso sehr geliebt wie ich. Und der Hexenmeister hatte Jimmy erst vollkommen beherrschen können, nachdem sie ihr Blut miteinander vermischt hatten, also erst, seitdem er hier in New York war.
So wie der Meister lächelte und geflissentlich meine Fragen überging, konnte ich mir schon denken, dass ich von ihm gar nichts erfahren würde.
Ich riss den Ruthie-Pin heraus und sah ihn herausfordernd an. Er
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