Die Phoenix Chroniken: Blut (German Edition)
nicht immer die Gedanken anderer lesen können und nicht alles gesehen. Auch jetzt klappte es noch nicht jedes Mal, aber ich wurde von Tag zu Tag besser.
Ich nahm meinen Seesack und ging zur Tür. Jimmy folgte mir.
„Möglicherweise bist du sogar gefährlicher als das, wogegen wir kämpfen“, murmelte er.
Ich sah zum diesigen Morgenhimmel auf. „Möglicherweise bin ich das, ja.“
6
W ir nahmen einen Flug von Los Angeles nach Indianapolis. Die Sicherheitsvorkehrungen waren streng. Die Nachrichten im Fernsehen und Radio brachten nur schlechte Meldungen. Ein sprunghafter Anstieg von Überfällen, Morden, Vergewaltigungen. Die psychiatrischen Kliniken, ach Scheiße, einfach alle Kliniken waren überfüllt.
Die Regierung war ratlos. Sie war auf Terrorismus, Naturkatastrophen und Kriege vorbereitet. Aber wenn die Welt Amok lief, wenn die Bürger, die man zu schützen versuchte, plötzlich selbst diejenigen waren, vor denen die anderen geschützt werden mussten, dann wusste niemand, was zu tun war.
In den Stunden, die wir brauchten, um quer über den halben Kontinent zu fliegen, sprachen Jimmy und ich nicht miteinander. Das störte mich kaum. Ich lauschte den Gesprächen der Menschen um uns herum. Sie hatten Angst, und das konnte man ihnen auch nicht verdenken.
„Es sind Terroristen“, flüsterte die Frau, die rechts von mir saß. „Sie haben was ins Trinkwasser getan, damit alle durchdrehen.“
„Nein, es ist eine Seuche“, beharrte der Mann hinter mir. „Wir werden nicht von AIDS vernichtet, sondern von diesen hirnfressenden Bakterien, die jeden Menschen glauben lassen, sein Nachbar wolle ihn umbringen.“
„Das Ende der Welt.“ Eine ältere Frau, die ziemlich weit vorn saß, nickte langsam. „Ich dachte, das wäre der 11. September gewesen, aber das war erst der Anfang.“
Die verdammten Grigori hatten Wandertag. Sie paarten sich mit Menschen und bevölkerten die Erde mit Nephilim, genau wie es in der Prophezeiung stand. Das Ende musste definitiv kurz bevorstehen. Ich fragte mich, wie viel Zeit uns noch blieb, bevor eine vollständige Panik ausbrach – und was wir tun würden, wenn es so weit war.
Der Pilot sagte durch, dass wir in zehn Minuten landen würden. Jimmy, der sich schlafend gestellt hatte, setzte sich nun auf. Aus der Anspannung in seinen Gesichtszügen las ich, dass auch er die Gespräche mitbekommen hatte und dass ihm das Gehörte ebenso wenig gefiel wie mir.
Wahrscheinlich hätte ich Sanducci seiner Wege gehen lassen sollen. Es war nicht nötig, dass er mit nach Brownport kam. Mit Xander Whitelaw würde ich schon alleine fertig werden – aber ich konnte mich nicht darauf verlassen, dass Sanducci nicht einfach verschwinden würde, sobald ich ihm den Rücken zudrehte. Schließlich hatte ich eine Menge kostbarer Zeit damit verschwendet, ihn zu suchen. Und weil ich nicht noch mehr Zeit verlieren wollte, ließ ich ihn in dem Glauben, dass ich seine Hilfe nötig hatte.
Nach der Landung holten wir unser aufgegebenes Gepäck ab – wir hatten unsere Messer nicht mit an Bord nehmen dürfen, wären aber niemals ohne sie verreist. Dann wollte ich zu einem Mietwagenschalter gehen. Jimmy jedoch marschierte direkt zum Hauptausgang hinaus. Ich wollte ihn nicht aus den Augen verlieren, also folgte ich ihm. Er ging ohne Umschweife auf einen schwarzen Lincoln Navigator zu, der mit laufendem Motor am Bordstein stand. Jimmy mochte große Autos. Sein letzter Wagen war ein abartig großer schwarzer Hummer gewesen.
Der Mann, der vom Fahrersitz kletterte, war ebenfalls abartig groß, aber weiß. Ich hielt den Atem an und wartete auf die flüsternde Stimme, die mir früher immer die Anwesenheit eines Nephilim angekündigt hatte, bis mir einfiel, dass Ruthie nicht mehr zu mir sprach. Dass ich einen solchen Dämon in mir hatte, erwies sich als ein weitaus größeres Ärgernis, als ich mir hätte vorstellen können.
Allerdings hatte ich diese Verwandlung bewusst zugelassen – und nicht nur das. Verdammt, ich hatte Jimmy gejagt, gefunden und ihm den Dämon regelrecht gestohlen, um die Rettung der Welt einzuleiten. Die Folgen dieser Umarmung des Bösen waren jedoch schmerzlicher, als ich erwartet hatte. Vorher hatte ich Ruthies Stimme im Wind gehört und sie in meinen Träumen gesehen, fast so, als wäre sie gar nicht wirklich fort gewesen. Nun sprach sie durch jemand anders, und ich war wieder auf mich allein gestellt.
Ich beobachtete Jimmy, um einen Anhaltspunkt zu bekommen. Er lächelte und ging
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