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Die Phoenix Chroniken: Fluch (German Edition)

Die Phoenix Chroniken: Fluch (German Edition)

Titel: Die Phoenix Chroniken: Fluch (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lori Handeland
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nicht aussprach. Je mehr schreckliche Dinge Luther sah, desto leichter würde ihm das Töten fallen. Das ging uns allen so  – ich betrachtete Sanduccis atemberaubendes Profil  –, bei einigen war es früher der Fall als bei anderen.
    Als wir auf die Straße kamen, schlug uns die Hitze wie eine Decke ins Gesicht, die in den Fluss getaucht worden war  – schwer, feucht, muffig und modrig. Bei dem Versuch einzuatmen, verbrannte mir die Luft nicht nur die Kehle, sie schien sie auch mit Wattebäuschchen zu füllen.
    »Bist du sicher, dass du Kaffee willst?«, fragte Jimmy.
    »Sicher.« In einer Geschwindigkeit, die kein Normalsterblicher wagen würde, steuerte ich auf die Decatur Street zu.
    Obwohl ich es eilig hatte, an eine Tasse Malzkaffee und einen Teller voll frittiertem Teig zu kommen, warf ich unterwegs ein paar Blicke in die Schaufenster der Geschäfte. Ich konnte einfach nicht anders. Ein Schrumpfkopf lag direkt neben einer reich verzierten Mardi-Gras-Maske, katholische Ikonen standen neben Voodoo-Puppen. Ich sage nur: New Orleans.
    Plötzlich blieb ich stehen, und Jimmy rannte mit einer solchen Wucht in mich hinein, dass er mich geradezu vorwärts schob. Ich fing mich mit den Händen an der Scheibe ab, meine Nase berührte schon die kühle, saubere Fläche.
    Ich hatte die Fotografie zwar noch nie zuvor gesehen, aber ich wusste, dass Jimmy sie aufgenommen hatte. Ich brauchte sie gar nicht zu berühren, um das zu sehen , ich brauchte ihn auch nicht zu fragen, seine Antwort nicht zu hören. Ich wusste es einfach.
    Das Porträt zeigte nicht einmal eines seiner üblichen Motive. Stattdessen starrte ein kleiner Junge ganz in Schwarz-Weiß aus dem Bild. Der Schmutzfleck in seinem Gesicht entsprach dem Ton seiner Augen, sein verdrecktes Hemd mochte früher einmal so hellgrau gewesen sein wie sein Bürstenschnitt. Auf seinen hellen Haaren saß eine Fliege, eine weitere auf seiner Schulter. Die Kamera hatte ihn in dem Moment eingefangen, als er Luft nach oben blies, die Unterlippe gerade vorgeschoben, der Pony zerzaust. Die Fliege rührte sich nicht.
    Hatte er im Matsch gespielt, oder lebte er auf der Straße? Das Bild war zugleich das Süßeste und das Traurigste, das ich jemals gesehen hatte.
    Jimmys und meine Augen fanden sich im Spiegel, und er streckte die Hand nach mir aus. »Warte, Lizzy  … «
    Ich wich zur Seite aus und öffnete die Tür. Drinnen gab es noch mehr Fotos, die dem ersten ähnelten. Alle in Schwarz-Weiß, meistens von Kindern. Jedes stellte eine Frage, erzählte eine Geschichte  – und zerriss mir das Herz.
    Vielleicht hatte es mit seiner übernatürlichen Fähigkeit zu tun  – Jimmy sah Dinge, die anderen verborgen blieben. Er war so wahnsinnig begabt. Sanducci war berühmt, und er verdiente den Ruhm. Trotzdem war keines der Bilder, die er für Geld geschossen hatte, mit denen in diesem Raum vergleichbar.
    Ich sah ihn an. »Warum hast du mir das nie gezeigt?«
    Eine Emotion huschte über sein Gesicht, eine, die ich nicht recht deuten konnte, bevor sie wieder verschwand. »Baby, ich werd dir alles zeigen, was du willst.« Er legte die Hand auf seinen straffen Bauch und rieb darüber, zog dabei sein T-Shirt hoch und versuchte, mich mit seinem Waschbrettbauch abzulenken.
    »Nicht.« Ich legte ihm die Hand auf den Arm. Er zog ihn weg, doch vorher noch begriff ich die Wahrheit. Er mochte zwar vorgeben, dass die Fotos nichts zu bedeuten hatten, aber ich wusste es besser. In jedem einzelnen lag ein winziges Stück seiner Seele.
    »Kann ich Ihnen helfen  … ?«
    Ich drehte mich um, und die Augen des dünnen, weißhaarigen Mannes weiteten sich. »Sie sind das«, sagte er.
    Ich warf Jimmy einen wütenden Blick zu. »Zeig sie mir«, befahl ich, und der Verkäufer verzog sich schnell in den Hintergrund.
    »Scheiße«, murmelte Jimmy zwar, doch er folgte mir.
    Ich betrat einen separaten Raum und drehte mich langsam im Kreis. Ich sah so viele verschiedene Versionen von mir, dass mir schwindlig wurde. Auch diese Bilder waren mit einem Schwarz-Weiß-Film aufgenommen worden, doch in ihnen leuchtete ein unübersehbarer Unterschied zu den anderen Fotos: das strahlende Saphirblau meiner Augen.
    Was für eine künstlerische Begabung! Aber diese Bilder wirkten gar nicht komponiert  – ihre Schönheit war einfach gespenstisch.
    Da war ich, kurz nachdem ich zu Ruthie gekommen war  – ich war zwölf Jahre alt und viel zu dünn, entwickelte mich aber schon zur Frau, was mir Angst einjagte. Meine Beine

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