Die Phoenix-Chroniken: Glut (German Edition)
standen steil zu Berge, damit sah sie nicht nur verrückt aus, sondern auch so, als wäre sie den Elektrotod gestorben.
„Ich habe es für dich getan“, brüllte sie mit einer Stimme, die nur noch ein bestialisches Grollen war.
„Danke“, sagte Saywer sanft.
Mit ihrem Geschrei brachte sie die Erde zum Beben. Und jeden Augenblick wartete ich darauf, dass sich ein Spalt auftun und die beiden verschlucken würde. Aber das wäre ja zu einfach. Und wollte ich Saywer wirklich verlieren, selbst um den Preis, seine Mutter loszuwerden?
Sicher war ich mir nicht.
„Ich werde sie schön langsam töten. Ihre Eingeweide verspeisen, während du dabei zusiehst. Sie wird mich anflehen, sie zu töten. Ich werde sie dazu bringen, dich zu hassen.“
„Das tut sie bereits.“
„Warum beschützt du sie dann? Warum trägt sie dein Zeichen?“
Ich beugte mich vor und spitzte die Ohren, aber er antwortete nicht.
Blitzartig streckte die Naye’i die Arme in meine Richtung aus. Feuer schoss aus ihren Fingerspitzen. Ich hatte nicht einmal mehr Zeit, mich zu ducken. Das hätte wohl auch einen Scheißdreck geholfen.
Dennoch hielten die Flammen ein paar Meter vor mir an, züngelten und flackerten, schossen empor, rollten dann hinunter, als hielte eine unsichtbare Brandmauer sie auf.
Mit der Hand fasste ich nach dem Türkis; der Stein war heiß. Als sich meine Finger darum schlossen, schrie die Naye’i erneut auf und verschwand in einer Säule aus Rauch. In diesem Augenblick erloschen die Flammen, und der Sturm legte sich.
19
S aywer überquerte den Parkplatz, selbst im flackernden Silberlicht der Straßenbeleuchtung schimmerte seine Haut noch golden, sein Gang war geschmeidig wie der eines Panthers. Wir mussten unbedingt etwas zum Anziehen für ihn finden, sonst würde er noch den gesamten Verkehr lahmlegen.
Unweigerlich fiel mein Blick auf seinen Schritt, um zu sehen, ob er erregt war.
War er nicht. Gott sei Dank.
Mit Inzest kannte ich mich nicht aus. Das Wort allein reichte mir schon. Der Gedanke löste Übelkeit aus. Aber ich war überzeugt davon, dass diese Art des Missbrauchs einen bleibenden Schaden beim Opfer hervorrief. Selbst wenn Opfer und Aggressor nicht durch und durch menschlich waren.
Die Begegnung schien an Saywer spurlos vorübergegangen zu sein. Von mir konnte man das nicht gerade behaupten. Ich zitterte am ganzen Leib.
Saywer drängte mich hinein, verriegelte die Tür, dann breitete er die Arme aus, warf den Kopf in den Nacken und sang in der Sprache seines Stammes. Wie er so im Halbdunkel sang, fast nackt, mit seinen langen, schwarzen Haaren, die ihm über die Schultern fielen, begehrte auch ich ihn. Und das ekelte mich an. Denn er war ja schon genug ausgebeutet worden.
Saywer als Opfer wahrzunehmen verstörte mich zutiefst. Bislang ist er immer der Nagel zu meinem Sarg gewesen. Ich hatte ihn gefürchtet. Ich hatte ihn gehasst, so wie er es gesagt hatte. Aber vom ersten Augenblick an war zwischen uns etwas Besonderes. Mit fünfzehn Jahren hatte ich noch nicht richtig verstanden, worin dieses Besondere bestand; ich hatte nur gespürt, dass dieser Mann gefährlich war.
Er brach den Singsang ab, ließ die Arme hängen und senkte den Kopf, auch wenn er mich nicht ansah, den Blick geradezu von mir abwandte. „Das sollte sie für eine Weile von hier fernhalten“, murmelte er.
Ich blickte zur Tür. „Kommt sie wieder?“
„Was glaubst du denn?“ Saywer atmete geräuschvoll ein und ließ die Luft dann wieder heraus.
Vom Spiel seiner Muskeln, den eintätowierten Umrissen des Hais auf seiner Schulter und des Falken in seinem Nacken war ich fasziniert. Das Krokodil auf seinem Unterarm …
Bei diesem Bild zögerte ich. Es war neu, nur dass ich es bereits gesehen hatte.
In seinen Träumen.
Ich überlegte kurz, warum er es wohl hatte machen lassen, bis ich mich daran erinnerte, wie es sich anfühlte, als ich mit den Fingern darübergestrichen hatte – die Stärke meines Kiefers, den unbändigen Drang, zu jagen und zu töten, die Macht über alle Bewohner des Wassers. Jedes Tier auf Saywers Haut war ein Raubtier. Mal ehrlich, was sollte es auch nützen, sich in ein Lamm zu verwandeln?
Aber allmählich fragte ich mich, ob seine Tätowierungen nicht anfänglich auch der Versuch waren, sich gegen das Unausweichliche zur Wehr zu setzen. Seine Mutter hatte Jagd auf ihn gemacht. Um zu überleben, musste er zu einem Raubtier werden – sowohl körperlich als auch geistig. Nicht, dass Saywer irgendwelche
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