Die Poison Diaries
mir, Mädchen«, sagt er schnell. »Ich würde jedem Mann den Hals umdrehen, der sich an einer Frau vergreift. Ich bin kein Chorknabe, so viel ist sicher, aber ich habe meine Grundsätze.«
»Vor wem dann?«
»Vor denen.« Er ruckt mit dem Kopf in Richtung der Gaststube unter uns, wo das lautstarke Feiern weitergeht. »Die Witwe Agnes bekreuzigt sich, wenn du vorbeigehst.«
»Wir sollten uns vielleicht drinnen weiter unterhalten«, sage ich und schließe die Tür zu meiner Kammer auf. Rye huscht hinter mir herein. Ich schließe die Tür und verriegle sie.
An der Wand neben der Tür ist ein Leuchter befestigt. Ich zünde die Kerze an. Die Kammer ist klein und bescheiden: ein Bett, eine Kommode und eine Waschschüssel.
Ich wende mich Rye zu. »Tut mir leid, dass ich dir keinen Stuhl anbieten kann.«
Er lacht. »Du hast tatsächlich keine Angst vor mir, nicht wahr?«
»Nein.« Ich spreche leise, denn die Wände zwischen den Zimmern sind dünn. »Im Gegenteil. Ich fühle mich sicherer, wenn du bei mir bist.«
»Nett von dir, dass du das sagst.« Seine Stimme wird weich. »Und du bist ein liebes Mädel, finde ich, lieb und warmherzig, obwohl dein hübsches Gesicht kaum lächelt.«
»Bist du deswegen gekommen – um mich zum Lächeln zu bringen?« Ohne dass ich es beabsichtige, klingen meine Worte wie eine Einladung, aber er geht nicht darauf ein.
»Ich kam, um dich zu warnen. Hüte dich vor dem Haufen da unten. Mir gefällt nicht, wie sie reden. Besonders diese Agnes. Sie hat etwas gegen dich. Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie dir Übles will.«
»Danke«, sage ich aus vollem Herzen. »Du bist ein wahrer Gentleman.«
Er lacht. »Nun mal langsam! Ich werde mir keine Galanterie nachsagen lassen. Ich will dich nicht anlügen – es gibt noch einen Grund, warum ich hier bin. Die Wahrheit ist, Rowan, dass ich an einem Fieber leide.« Ich erschrecke unwillkürlich; ich habe meine Heilkünste vor diesen Leuten sorgfältig verborgen gehalten.
»Was für ein Fieber?«
»Liebe, glaube ich.« Sein Blick sucht meinen. »Oder so etwas in der Art.«
Wieder dreht sich alles vor meinen Augen. Liegt es am Ale? An der späten Stunde? Am Tanz des Kerzenlichts in diesem kleinen, engen Raum? Oder liegt es an Rye, daran, dass er mich auserwählt hat, an seiner sanften Stimme, seiner beschützenden Art, die mir beweist, wie maßlos allein ich bin?
Alles, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass seine leisen Worte und sein Körper, von dem eine Hitze ausstrahlt, mich ebenfalls erwärmt haben. Ich hebe den Blick. Er sieht, was meine Augen ihm enthüllen – ich höre es an der Art, wie sich sein Atem beschleunigt.
Er kommt nicht näher, sondern streckt einfach die Hand aus. Er streicht mir das dunkle Haar aus dem Gesicht, liebkost den Rand meines Ohrs und fährt über mein Gesicht zum Kinn. Dann wölbt er seine Hand und ich neige den Kopf, lege meine Wange hinein, und er streicht mit dem Daumen sanft über meine Lippen. Als ob sie einem stummen Befehl folgen würden, öffnen sie sich. Mein Herz schlägt schneller. Noch immer rührt er sich nicht.
Ganz plötzlich bin ich es, die ihn küssen will.
»Wer bist du, Rowan?«, sagt er. »Ich glaube, du bist jünger als du aussiehst.«
»Ich bin alt genug.« Wie aus eigenem Antrieb gleiten meine Hände an seinen Seiten empor und über seine starken Arme. Unter seiner Haut, die so warm ist wie ein Herdfeuer, spüre ich knorrige Muskeln, hart wie festgebackene Erde. Der Stoff seines Hemdes kratzt mir über die Handflächen.
»Alt genug für mich? Ich frage mich, ob das stimmt. Ich frage mich, warum du wegläufst – und wovor.« Er nimmt meine Hände und hebt sie zu seinem Gesicht, als ob er sie küssen will. Stattdessen hält er sie ins Kerzenlicht. »Jedenfalls alt genug, um zu lügen. Dies sind nicht die Hände einer Näherin.« Er dreht meine Handflächen nach oben. »Eher die Hände einer Bäuerin. Diese Hände wissen, wie sich die Erde anfühlt. Gute, fruchtbare Erde.«
Jetzt kommt er näher und beugt sich zu mir nieder. Die langsame Zartheit seines Kusses erschreckt mich, bezaubert mich, und er löst sich viel zu früh von mir.
»Du bist auf der Flucht, nicht wahr?«
Ich antworte nicht; mein Atem geht schnell. Er lächelt.
»Sag mir die Wahrheit, und ich werde dich wieder küssen. Läufst du vor irgendetwas davon?«
»Ja.«
»Wovor?« Er zieht mich an sich. Seine Wange ist rau und heiß an meiner Haut »Vor einem groben Ehemann? Einem unnachgiebigen
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