Die Poison Diaries
von dem abhalten, was sie zu tun gewohnt sind. Sie huschen zu ihrer Stirn, um die Temperatur zu fühlen, und zum Hals, auf der Suche nach dem Puls. Ich bücke mich und drücke mein Ohr auf ihre Brust, um ihre Atmung abzuhören. »Hat sie irgendwelche Flüssigkeiten zu sich genommen?«, frage ich die Mutter. »Brühe? Oder Tee?«
»Ich habe es versucht, aber sie schreit vor Schmerzen und lässt alles wieder aus dem Mund fließen. Sind Sie eine Ärztin?« Die Stimme der Mutter ist vor lauter Hoffnung ganz erstickt. »Gibt es Ärztinnen in England?«
»Nein.« Die Lage ist ernst. Der Puls des Mädchens ist flach und schnell. Ihre Lungen ringen nach Luft. Ihre Haut ist trocken und glühend heiß. Bei einem derart starken Fieber können jeden Moment Krämpfe einsetzen.
Nicht traurig sein, meine Liebe. Nicht mehr lange, und ihre Qualen werden vorbei sein. Das sind doch gute Neuigkeiten, nicht wahr?
Aber ich könnte sie heilen.
Das könntest du. Du könntest sie auch töten und ihrem Leiden noch schneller ein Ende bereiten. Warum eigentlich nicht?
Du Teufel! Warum sollte ich das tun?
Heilen – töten … was für einen Unterschied macht das? Wie auch immer du dich entscheidest: Du triffst die Wahl, ob sie lebt oder stirbt. Warum solltest du das bestimmen dürfen? Ich persönlich ziehe es vor, der Natur ihren Lauf zu lassen. Aber das ist ja nur … natürlich, nicht wahr?
Oleanders melodisches Lachen hallt in meinem Schädel wider. Ich schließe die Augen. Unsere Schicksale sind miteinander verwoben, Maryams und meins. Wenn ich ihr helfe, riskiere ich, entdeckt zu werden, denn der Mord von Hulne Abbey ist in aller Munde. Wenn ich mich als Heilerin zu erkennen gebe, wird es nicht lange dauern, bis jemand Verdacht schöpft. Und wenn ich gefasst werde, werde ich Weed nie wiedersehen. Dann habe ich völlig umsonst zwei Leben und meine Seele geopfert.
Was soll ich tun?
Das Kind ist unschuldig und ich bin eine Doppelmörderin. Und wer gewinnt im Kampf zwischen Gut und Böse?
Das ist eine dumme Frage, mein Liebchen. Du weißt, wer gewinnt.
Diesmal nicht.
»Ich kann Maryam helfen, aber Sie müssen mir ganz genau zuhören«, sage ich zu der Mutter. »Ich gehe jetzt, aber ich komme bald mit Medizin zurück, die sie gesundmachen wird. Während ich fort bin, müssen Sie hinunter in die Küche gehen und einen Kessel mit kochendem Wasser und ein kleines Glas Gin holen. Wenn jemand Sie fragt, wozu Sie das brauchen, dann sagen Sie, Sie würden sich einen Punsch machen, damit Sie etwas Schlaf bekommen. Verraten Sie niemandem, dass Sie mit mir gesprochen haben oder dass ich hier war.«
Sie nickt, wirft Maryam aber einen besorgten Blick zu. Wir beide betrachten das kranke Mädchen. Ihre Augenlider flattern und zucken und ihre Glieder sind schwer und reglos. »Sie können sie getrost ein paar Minuten allein lassen«, sage ich sanft. »Im Augenblick weiß sie gar nicht, dass wir hier sind.«
Nachdem ich sie davon überzeugt habe, dass Maryam in unserer Abwesenheit nichts geschehen wird, haste ich die Treppe hinunter zu meiner Kammer im zweiten Stock. Ich verriegele die Tür hinter mir und hole aus meinem Bündel die tief unten versteckten kostbaren Kräuter.
Mit geübten Handgriffen bereite ich aus den Zutaten, die mir zur Verfügung stehen, eine Medizin zu. Ich habe nicht die exakt richtigen Kräuter bei mir, aber was ich habe, wird genügen: Weidenrinde und Wanzenkrautwurzel, um den Schmerz zu lindern und das Fieber zu senken. Wilder Indigo und Baummoos, um ihrem jungen Körper die Kraft zu geben, gegen die Entzündung in ihrem Hals anzukämpfen.
In einem kleinen Mörser mahle ich die Kräuter zu einem feinen Pulver. Dadurch werden ihre Inhaltsstoffe besser freigesetzt, weil ich keine Zeit habe, eine Tinktur anzusetzen. Dann schütte ich das Pulver in ein sauberes Taschentuch und binde es fest zusammen. Das Tuch stecke ich in meine Schürzentasche.
Das ist ein schlechter Plan. Ich bin ganz und gar nicht damit einverstanden, meine Liebe. Ganz und gar nicht.
Ich weiß.
***
Mittlerweile sind etliche Gäste erwacht und aufgestanden. Ohne Eile steige ich die Treppe hinauf, halte den Kopf gesenkt und wickele mich in Gelassenheit, wie in einen Umhang. Meine Füße bewegen sich in einem langsamen, bedächtigen Rhythmus.
Ich warte, bis niemand im Flur ist, und laufe dann leise zu dem Zimmer, in dem Maryam liegt. Ihre Mutter hat meine Anweisungen befolgt. Rasch bereite ich den Trank zu, indem ich das Kräuterpulver mit dem Gin
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