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Die Portugiesische Reise (German Edition)

Die Portugiesische Reise (German Edition)

Titel: Die Portugiesische Reise (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: José Saramago
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Stolz von Cidadelhe. Nach Cidadelhe zu fahren, ohne das Pallium zu sehen, heißt so viel wie nach Rom zu fahren, ohne den Papst zu sehen. Der Reisende war schon einmal in Rom; er hat den Papst nicht gesehen, und es war ihm egal. In Cidadelhe ist es ihm nicht egal. Aber da ist nichts zu machen. Schwamm drüber.
    Das ganze Dorf besteht aus Stein. Die Häuser sind aus Stein, die Straßen sind aus Stein. Die Landschaft ringsum ist aus Stein. Viele der Behausungen sind leer, einige der Mauern eingefallen. Wo früher Menschen lebten, wuchert Unkraut. Guerra zeigt ihm das Haus, in dem er geboren wurde, die Türschwelle, in der sich die Wehen ankündigten, sowie ein anderes Haus, wo er später gewohnt hat, das unter einem riesigen barroco klemmt, so nennt man hier die Felsblöcke, die sich in dieser Gegend übereinanderstapeln und -türmen. Der Reisende staunt über ein paar mit Schnitzereien oder dekorativen Flachreliefen versehene Türstürze: ein Vogel über dem geflügelten Kopf eines Engels, zwischen zwei Tieren, die entweder Löwen, Hunde oder auch Raubvögel ohne Flügel darstellen könnten, ein Baum, der sich über zwei Burgen erstreckt, das Ganze auf einer schematischen Komposition von Lilien und Girlanden. Der Reisende staunt. Da sagt Guerra: »Jetzt sehen wir uns den Cidadão an.« »Was ist das?«, fragt der Reisende. Guerra will noch nichts verraten: »Kommen Sie.«
    Sie gehen durch steinige Gassen, in diesem Haus hier, das auf dem Weg liegt, wohnt eine Schwester von Guerra namens Laura, der Schwager ist auch da, er macht den Stall sauber und hat schmutzige Hände, deswegen kommt er nicht näher und grüßt stattdessen mit Worten und Lächeln. Laura fragt: »Haben Sie schon das Pallium gesehen?« Offenkundig irritiert antwortet Guerra: »Das geht nicht. Es ist in Reparatur.« Die beiden gehen ein Stück zur Seite. Eine weitere geheime Unterredung. Der Reisende lächelt und denkt: »Da muss etwas dahinterstecken.« Und während er weiter in Richtung eines Glockenturms geht, der schon von weitem über den Dächern zu sehen ist, bemerkt er, dass Laura rasch in einer anderen Straße verschwindet, als wäre sie in einer wichtigen Mission unterwegs. Eine merkwürdige Geschichte.
    »Das ist der Cidadão«, sagt Guerra. Der Reisende sieht einen kleinen Bogen neben dem Glockenturm, darauf im Relief die grobgeschnitzte Figur eines Mannes und unter ihm die Hälfte einer Kugel. Auf der anderen Säule des Bogens steht in großen Lettern: »Das Jahr 1656«. Der Reisende will mehr wissen und fragt: »Was ist das für ein Mann?« Das weiß niemand so genau. Der Cidadão gehört seit jeher zu Cidadelhe, er ist eine Art Laienpatron, ein schützender Gott, um den sich die Leute aus dem Unterdorf, wo er sich jetzt befindet, und die aus dem Oberdorf, As Eiras, von wo der Reisende gerade herkommt, erbittert streiten. Es gab eine Zeit, da die verbalen Streitereien in offenen Kampf ausarteten, aber am Ende überwogen die historischen Argumente, denn der Cidadão gehört eindeutig zu diesem Teil des Dorfes. Der Reisende sinniert über die besondere Zuneigung von Menschen, die so wenig materielle Güter besitzen, zu einem simplen Stein, der schlecht gearbeitet und vom Wetter gezeichnet ist, eine plumpe menschliche Figur, an der man kaum die Gliedmaßen erkennen kann, und er verliert sich in Gedanken darüber, wie einfach alles zu verstehen ist, wenn man nur den wirklich wesentlichen Wegen folgt, diesem Stein, diesem Mann, diesem rauen Land. Und er denkt, wie schwer es ist, mit solch einfachen Dingen umzugehen, sie sich selbst zu überlassen, sie nicht verändern zu wollen, einfach mit ihnen zu sein und diesen Cidadão und das Glück im Gesicht seines neuen Freundes zu sehen, der José António Guerra heißt und der beschlossen hat, all das nicht zu vergessen. »Was weiß man von der Geschichte des Cidadão?«, fragt der Reisende. »Wenig. Er wurde irgendwann irgendwo dahinten in den Felsen gefunden« (er zeigt in Richtung des unsichtbaren Ufers des Rio Côa) »und gehört seitdem hierher.« »Warum hat man ihn Cidadão genannt?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil das Dorf hier Cidadelhe heißt.«
    Ein guter Grund, denkt der Reisende und will gerade in die Pfarrkirche hineingehen, als er bemerkt, dass er nicht mehr allein mit José António Guerra ist. Wie aus dem Nichts sind plötzlich drei der älteren Frauen aus dem Chor vor der Ermida de São Sebastião aufgetaucht, und obwohl sie so alt und verhärmt sind, lächeln sie jetzt.

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