Die Probe (German Edition)
sicher zu gehen, keine Knochen übersehen zu haben.
Der Kommissar kam zurück, sein Gesichtsausdruck noch mürrischer, als widerte ihn die Arbeit unsäglich an. Schnoddrig stellte er dem jungen Mann ein paar unverständliche Fragen. Als der Postbote auf den Tisch deutete, fuhr Charlie zusammen. Da lag ein Häufchen Post, aus dem ein großer Umschlag hervorstach, auf dem er deutlich den Absender lesen konnte: Ludwig-Maximilians-Universität München. Darunter in Blockschrift sein Name. Sein Name an einem möglichen Tatort, das war nicht gut. Gar nicht gut. Es war sein Dossier über Vidal, und es musste so schnell wie möglich von hier verschwinden.
Dem Kommissar war glücklicherweise nichts aufgefallen. Er entließ den Postboten und wandte sich ihm zu.
»Wann haben Sie Mr. Hogan zum letzten Mal gesehen?«
»Das war bei der Beerdigung ...« Ein lauter Ruf unterbrach ihn. Der Kommissar eilte zur Treppe. In die ganze Mannschaft kam Bewegung. Es dauerte nicht lange, bis ein Beamter erschien, der ihn bat, ihm zu folgen. Mit flauem Gefühl im Magen stieg er die Treppe hinunter in den Keller. Der Kommissar empfing ihn mit ernstem Gesicht. Keine Spur mehr vom mürrischen Ausdruck. Aus seinen Augen sprach beinahe so etwas wie Mitgefühl.
»Wir haben jemanden gefunden.«
»Michael, ist er tot?« Sein Magen verkrampfte sich.
»Wir wissen nicht, ob es Mr. Hogan ist. Können Sie ihn identifizieren?« Er nickte stumm. Die beklemmende Vorahnung und Ungewissheit schnürten ihm die Kehle zu. »Ich muss Sie warnen. Es sieht grässlich aus«, sagte der Kommissar leise, wobei er ihn genau beobachtete. Dann ging er voran in den Raum, wo ein Mann und eine Frau des medizinischen Teams einen mit Blut und Kot verschmierten, nackten Körper auf eine Trage hoben, bedeckt von tief ins Fleisch geschnittenen, blauen Striemen, als hätte ihn jemand zu Lachsschinken verarbeiten wollen. Das Seil, das diese entsetzlichen Spuren hinterlassen hatte, lag zerschnitten am Boden. Er kämpfte gegen die Übelkeit, hielt sich ein Taschentuch vor Mund und Nase, als er sich zaghaft dem Kopf dieser geschundenen Kreatur näherte. Fassungslos starrte er ins aufgedunsene Gesicht mit den leblosen Augen, die aus den Höhlen zu springen drohten und dem Mund mit den fast schwarzen Lippen, weit aufgerissen zu einem letzten, verzweifelten Atemzug. Er musste sich abwenden, um sich nicht zu übergeben. Sekundenlang glotzte er die graue Wand an, würgte die sauren Säfte hinunter, versuchte, sich zu beruhigen. Er redete sich ein, nur unbeteiligter Beobachter zu sein, das Ding auf der Trage nichts anderes als leblose Requisite in einem makabren Theaterstück. Aber es war keine Requisite. Das arg entstellte Gesicht war für Charlie noch immer klar zu erkennen: dieser Körper war einmal Michael Hogan gewesen. Traurig blickte er zum Kommissar und nickte. Noch einmal näherte er sich dem entstellten Gesicht, magisch angezogen vom seltsamen Leuchten der toten Augen. Im nächsten Moment zuckte er heftig zusammen. Die Augenlider hatten sich bewegt! Ein schier unmerkliches Vibrieren nur, aber deutlich genug, dass es keine Zweifel gab.
»Er lebt!«, rief er aus und sprang zur Seite.
»Unmöglich«, murmelte der Kommissar ungläubig. Seine Leute hatten weder Puls noch Atmung oder Reflexe festgestellt. Die Frau des Hilfsteams leuchtete sofort nochmals in die Augen des Opfers. Mit einem Ausruf höchster Überraschung bestätigte sie Charlies Beobachtung. Unverzüglich versuchten sie und ihr Kollege, den Totgeglaubten wieder ins Leben zurückzuholen. Sie setzte ihm eine Spritze, um den Kreislauf wieder in Gang zu bringen, dann schlossen sie ihn ans Sauerstoffgerät, verbanden seine verkrusteten Wunden notdürftig und beeilten sich, ihn so schnell wie möglich in den Notarztwagen zu tragen, um ihn ins nächste Spital zu fahren.
»Ich muss Sie bitten, mir auf den Posten zu folgen, Dr. Conway«, sagte der Kommissar, als er die Besichtigung des Tatorts beendet hatte. »Wir müssen Ihre Aussage zu Protokoll nehmen.«
»Selbstverständlich, ich fahre Ihnen nach.« Er wartete, bis der Kommissar das Haus verlassen hatte. Sobald er sicher war, dass ihn niemand beobachtete, ließ er den Umschlag, den er Michael geschickt hatte, unter dem Hemd verschwinden und ging zu seinem Auto. Der Kommissar stand neben seinem Einsatzwagen und telefonierte. Als das Gespräch beendet war, kam er gemessenen Schritts auf Charlie zu und sagte:
»Es tut mir leid, Dr. Conway. Ihr Bekannter ist seinen
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