Die Probe (German Edition)
unbedingt vermeiden. Der Mann war gefährlich, wie er bewiesen hatte.
Die Zeitung ließ er ungelesen liegen. Er packte die brisanten Unterlagen wieder in den Umschlag und verließ die gemütlich nach Kaffee und ofenfrischem Gebäck duftende Arvenstube des Hotel Platzl. Er musste sich beherrschen, um die paar Schritte zur U-Bahn-Station Marienplatz nicht zu rennen.
Eine halbe Stunde später betrat er das Institutsgebäude in Großhadern. Wie ein alter Bekannter winkte er der Empfangsdame freundlich zu, bevor er im Aufzug verschwand. Laurens Bürotür war geschlossen, und niemand reagierte auf sein Klopfen.
»Sie ist an der Uni in einer Besprechung. Dauert wohl den ganzen Vormittag«, sagte eine unbekannte Stimme hinter ihm. Ein junger Inder grüsste ihn freundlich und stellte sich als Mitarbeiter in Laurens Team vor. »Sie regelt die letzten Details für unseren Ausflug nach Portugal«, grinste er. »Wenn Sie wollen, können Sie in unserem Büro warten.« Er wollte dankend ablehnen, als ihn das Piepsen seines Telefons unterbrach. Stirnrunzelnd las er den Namen des Anrufers auf dem Display: das Londoner Büro.
»Du hast es sicher schon in der Zeitung gelesen«, begrüßte ihn James mit ungewohnt ernster Stimme. Er erschrak. Sofort schoss ihm der Gedanke an Thorsen durch den Kopf, und was James ihm erzählte, übertraf seine schlimmsten Befürchtungen. Warum hatte er ausgerechnet heute die verdammte Zeitung nicht gelesen? Ein äußerst heftiger Blowout, wie er nur alle zehn oder zwanzig Jahre einmal auftrat, hatte die Bohrinsel vor Stavanger vernichtet, während sein Kollege Thorsen dort die Arbeit verrichtete, für die er selbst ursprünglich vorgesehen war. Mit einem Schlag stürzten die alten Vorwürfe wieder auf ihn ein, die er verdrängt zu haben glaubte. Aufs Höchste erregt, grau im Gesicht, tigerte er mit dem Telefon am Ohr durch den Korridor. Die einzige gute, oder vielmehr nicht ganz schlechte Nachricht war, dass Thorsen überlebt hatte.
»Wie geht es ihm, wo ist er jetzt?«, fragte er leise mit bebender Stimme, als fürchtete er die Antwort.
»Es geht ihm gar nicht gut, aber er lebt, wie ich gesagt habe. Er liegt auf der Intensivstation im Unispital von Stavanger. Ist nicht ansprechbar.« Charlie hatte seinen Entschluss sofort gefasst, als er hörte, dass sein Kollege noch lebte. Er musste nach Stavanger, wenigstens versuchen, mit ihm zu sprechen. Das war er ihm und sich selbst schuldig.
Erst als das Gespräch beendet war, dachte er wieder an den dicken Umschlag unter seinem Arm. Er durfte keine Zeit verlieren wegen Thorsens kritischem Zustand, aber die Information für Lauren und Michael war ebenso wichtig. Kurz entschlossen ging er ins Büro, in dem der freundliche Inder verschwunden war. Mit seiner Hilfe hatte er die wichtigsten Dokumente schnell kopiert und in einen Briefumschlag gesteckt. Fehlte nur noch Michaels Privatadresse, denn die Papiere waren nicht für neugierige Augen in seinem Büro bestimmt. Er versuchte, Lauren zu erreichen, doch nur ihre Mailbox meldete sich. Er deutete auf einen unbesetzten Arbeitsplatz und fragte den jungen Mann:
»Darf ich kurz diesen PC benutzen? Ich sollte schnell ins Netz.«
»Selbstverständlich. Mit User ›guest‹ kommen Sie ohne Passwort aufs Internet.« Er setzte sich an den Computer und rief das elektronische Telefonbuch der Schweiz auf. Aber wie er auch seine Suche verfeinerte und erweiterte, Michael Hogans Privatadresse war nicht aufzufinden. Enttäuscht loggte er sich aus. Sollte er den Brief einfach hier lassen und hoffen, Lauren würde sich darum kümmern? Er durfte jedenfalls keine weitere Zeit verlieren. Als er in der Jackentasche nach seinem Schreibstift kramte, fiel ihm eine vergessene Visitenkarte in die Hand, Francescas Karte. Wenn jemand außer Michael selbst seine Adresse kannte, dann sie. Ohne zu zögern tippte er die Handynummer auf der Karte ins Telefon, das vor ihm auf dem Tisch stand. Nach einem kurzen Gespräch mit der verwunderten Francesca hatte er die gesuchte Adresse. Er schrieb sie auf den Briefumschlag und überließ ihn dem hilfsbereiten jungen Mann zum Versand. Dann verabschiedete er sich eilig, fuhr zum Hotel zurück, packte das Nötigste in eine Reisetasche und machte sich auf den Weg zum Flughafen.
Feusisberg, oberer Zürichsee
Hier war er sicher. Jedenfalls bis die echte Polizei Verdacht schöpfte. Michael gratulierte sich einmal mehr zu seiner Umsicht, mit der er dafür gesorgt hatte, dass niemand seinen privaten
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