Die Prophezeiung
Sollen wir eine Münze werfen?« David seufzte.
»Geradeaus«, gab Katie zurück. »Das scheint mir der direkte Weg zu sein.«
»Wohin?«
»Irgendwohin. Okay, ich hab keine Ahnung, aber wer sagt uns denn, dass von den Seitengängen nicht weitere Wege abzweigen und wieder welche? Wenn wir geradeaus gehen, können wir jederzeit umdrehen und laufen gar nicht erst Gefahr, die Orientierung zu verlieren.«
»Du hast gar nicht vor umzudrehen.«
»Aber ich will mich hier auch nicht verirren. Ich hänge an meinem Leben. Robert, was sagst du?«
Sie wandten sich zu Julias Bruder um, der wie so oft auf seine Armbanduhr starrte. »Der Gang geradeaus führt genau Richtung Süden.«
»Und das heißt, dass es der richtige ist?« David ließ sich nicht so schnell beruhigen.
»Es gibt keinen richtigen Weg«, erklärte Robert. »Die Frage ist nur, wie viel Zeit er kostet. Und Zeit ist ein wichtiger Faktor, oder?«
»Lass mich raten – das sagt dir deine Theorie?«
Robert nickte, während er etwas in sein Notizbuch kritzelte, von dem er sich gar nicht mehr die Mühe machte, es wieder einzustecken. Dann setzte er sich ohne weiteren Kommentar in Bewegung. Er wählte den Gang geradeaus. Katie und David warfen sich einen Blick zu und zuckten mit den Schultern.
Nun, wenn sie eins heute gelernt hatten, dann war es die Tatsache, dass Robert von gemeinsam getroffenen Entscheidungen offenbar nichts hielt.
In regelmäßigem Abstand informierte sie Robert über die Strecke, die sie zurückgelegt hatten.
Hundert Meter.
Zweihundert Meter.
Es war, als seien sie auf dem direkten Weg zum Mittelpunkt der Erde. Und irgendwann nahm Katie die Zahl gar nicht mehr wahr. Es war einfach nur ein Hintergrundgeräusch.
Dreihundert.
Vierhundert.
Fünfhundert.
Irgendwann stoppten sie. Das Licht der Taschenlampe huschte über die Wände. Sie waren erneut an zwei Seitengängen angelangt, die jeweils im Neunziggradwinkel rechts abzweigten. Der Gedanke, dass hinter all dem ein Plan stand, ließ sich nun nicht länger leugnen und Katie musste zugeben, dass ihr das ganz und gar nicht gefiel.
Sie hätte nie von sich behauptet, sie besäße übermäßig viel Fantasie. Das war nicht ihr Job, sondern der anderer Leute. Aber im Gegensatz zu dem Höhlensystem unter dem Ghost, das schon die Ureinwohner entdeckt hatten, wirkten die Tunnel hier wie auf dem Reißbrett entworfen. Der Gedanke war grotesk – und irgendwie furchterregend.
Aber vielleicht schien ihr das Ganze auch nur so beunruhigend, weil sie dringend musste. Wenigstens etwas war normal. Katie klang fast heiter, als sie sagte: »He, Jungs, muss dringend pinkeln.« Und dann: »Meint ihr, hier unten gibt es Toiletten?«
Okay, keiner lachte, aber wenigstens fühlte sie sich besser. »Egal, ich verschwinde mal schnell um die Ecke für kleine Mädchen. Kann ich die Taschenlampe haben?«
Katie bog in den Seitengang links ein. Auf den ersten Blick unterschied er sich nicht von dem Hauptstollen. Oder vielleicht doch? Sie richtete den Lichtstrahl geradeaus. Etwa fünfzehn Meter vor ihr machte der Weg eine Biegung. Es war wirklich besser, sie blieben auf dem Hauptweg.
Sie legte die Lampe auf den staubigen Boden und öffnete den Gürtel.
Wenn sie etwas hasste, dann im Freien pinkeln zu müssen. Was für jemanden, der sich am liebsten draußen aufhielt, ziemlich unpraktisch war. Aber sie war nun einmal dafür völlig unbegabt. Allerdings war sie auch nie in die Situation gekommen, es ausprobieren zu müssen, bis sie Sebastien getroffen hatte.
Natürlich hatte er sie deshalb ausgelacht: »Es steckt ja doch ein Mädchen in dir.«
»Biologisch betrachtet bin ich auch eins und leider hat noch niemand ein Kleidungsstück erfunden, das das Pinkeln für Mädchen outdoor erlaubt. Dabei wäre das eine echte Marktlücke.«
»Ich schau auch nicht hin.« Er hatte gegrinst.
Sie grinste zurück. »Ich schaue bei dir hin.«
Mit Sebastien war alles einfach gewesen. Ihre Körper hatten einfach zueinandergepasst. Wie Yin und Yang, hatte er gesagt.
Oh, Fuck. Warum musste das nur alles passieren?
Sie zog die Hose nach unten, die immer noch unangenehm feucht war, und ging in die Knie. Als sie fertig war, hatte sie das Gefühl, dass Davids und Roberts Stimmen leiser wurden. Hastig schob sie die Jeans wieder nach oben, aber dann fiel ihr Blick auf einen länglichen Stein, der sie an etwas erinnerte. Etwas, das sie in einer Schublade ihres Gedächtnisses unter Unwichtig abgelegt hatte, das ihr allerdings in diesem
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