Die Prophezeiung
Knirschen schloss, kehrte Ruhe ein, auch wenn noch immer ein leises, kaum wahrnehmbares Sirren und Klirren in der Luft lag.
Reglos standen sie nebeneinander und rührten sich nicht.
»Hörst du das auch? Was bedeutet das?«
»Glas«, flüsterte Robert. »Über uns ist Glas.«
Katie wünschte sich weit, weit weg. Sie wünschte sich, an Sebastiens Bett zu sitzen, seine Stimme zu hören und mit ihm zu sprechen.
Sie hätte es wissen müssen, dass er wieder aufwachen würde. Egal, was all diese Ärzte sagten.
Sebastien gab niemals auf.
Grace Dossier
Aus den Aufzeichnungen von Paul
09. September1974
Ich suche mir einen Pilz aus, mehr nicht. Darunter kommt noch eine winzige Pilzkappe zum Vorschein, die ich mir ebenfalls in den Mund stecke.
Wie beim letzten Mal denke ich, dass das Zeug nach Hundescheiße schmeckt. Und die Konsistenz ist die eines Kaugummis, den man tagelang im Mund herumgeschoben hat. Je länger ich darauf herumkaue, desto bitterer, galliger wird der Geschmack.
Die Luft ist voller Musik. Ein einziges Summen. Vibrieren.
Das Gras unter mir singt.
Synthesizerklänge.
Ich sehe in die Runde.
Eliza und Mark sitzen dicht nebeneinander und küssen sich.
Martha trägt einen Ausdruck im Gesicht, als hätte sie so etwas wie eine Erleuchtung erfahren. Und Grace … Grace breitet die Arme aus und lässt sich ins Gras zurückfallen. Dann beginnt sie zu lachen. Im roten Schein des Feuers sieht sie glücklich aus. Nein, nicht glücklich – eher euphorisch.
Sie ist so schön.
Und so gefährlich.
Frank geht mir auf die Nerven. Er hört nicht damit auf, Steine gegeneinanderzuschlagen.
Und Milton.
Er kann den Blick nicht von Grace lösen. Und dann, von einem Moment zum anderen, katapultiert mich der Trip in die Umlaufbahn und ich kreise über dem Gipfel des Ghost.
Ich springe auf, gehe zu Grace und ziehe sie hoch.
Sie lacht. Lacht. Lacht.
Wir beginnen zu tanzen.
Der Mond bläst sich am nachtblauen Himmel zu einem Riesenlampion auf. Ich fürchte, er könnte platzen.
Jemand schreit etwas. Ich drehe mich um. Milton steht direkt vor mir. Sein Mund wird größer und größer.
Ich lasse Grace los.
Sie taumelt über das Gras. Ein Elfenschatten schwebt über das Gras und fliegt dem Abhang zu.
Schon balanciert sie über die Felskante wie eine Seiltänzerin – die Arme ausgebreitet, als wolle sie die ganze Welt umarmen.
Ich will etwas rufen, doch aus meinem Mund kommen nur Seifenblasen.
Dann ist sie verschwunden.
Stille.
Kapitel 20
Katies letzter Besuch einer Kirche hatte in Paris stattgefunden. Notre-Dame. Sie war sieben oder acht gewesen. Im ersten Moment hatte sie sich wie erschlagen gefühlt. Dann war ihr schlecht geworden. Nicht nur von dem Geruch der unzähligen Kerzen oder dem Weihrauch. Nein, richtig, richtig übel war ihr von der Architektur geworden, dem riesigen aufstrebenden Mittelschiff, den Bleiglasfenstern, dem merkwürdigen Licht, das den Chorraum beherrschte. Und wo man auch hinschaute, überall Mauern, Wölbungen, Getäfel, Säulen und wieder Pfeiler.
Sie hatte in diese berühmten Fenster geschaut – und hatte gedacht, dass sie dort nie mehr herauskommen würde. Es war eigentlich ein Wunder, dass ausgerechnet ihr Vater schnell genug reagiert hatte, bevor sie das Mittagessen auf den hellen Mamorfußboden hatte kotzen können.
Hier sieht es aus wie in einer verdammten Kirche.
Nachdem der Staub um sie herum sich gelegt hatte, war das der Vergleich, der ihr am passendsten erschien. Der Raum, in dem sie gelandet waren, erinnerte tatsächlich viel mehr an eine Kathedrale als an eine natürliche Höhle. Der Grundriss war kreisrund und wer noch zweifelte, dass Menschen diesen Raum geschaffen hatten, der wurde von Scheinwerfern eines Besseren belehrt, die in den Boden eingelassen waren und die ihr Licht auf die Wände und an die Decke warfen.
Der Ausgang hatte sie in eine Art Torbogen geführt. David lehnte noch immer erschöpft an einem der Pfeiler, während Katie und Robert sich nun Schritt für Schritt vorwärtswagten. Katie bemerkte, dass ihr Tor nicht das einzige war – in regelmäßigen Abständen waren in die gewölbten Wände mit dem groben Mauerwerk Nischen eingelassen, die sich alle exakt glichen. Die Pfeiler mochten eine Höhe von gut zweieinhalb Metern haben und umschlossen die Öffnungen, die wirkten, als ob sie einmal Standbilder oder Statuen beherbergt hätten oder wenigstens einmal dafür vorgesehen waren.
Aber das eigentlich Faszinierende an dem Saal war und blieb die
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