Die Prophezeiung
einen war es sicher der Schock, der sie dazu brachte, sogar ihre besten Freunde anzulügen. Das Erlebnis unter dem See, der Anblick von Grace, wie sie in Stein gehüllt in der Nische gelegen hatte, die Aktenordner, das alles ließ sich nicht so einfach in Worte fassen. Da konnte man nicht einfach ankommen und sagen: »Also hört mal, Leute, ihr werdet es nicht glauben, aber …«
Nein, dahinter stand eine Geschichte, die den Wahnsinn in sich trug, und zwar nicht nur eine Spur davon, sondern hundert Prozent. Der Einzige, der in der Lage wäre, Licht in das Dunkel zu bringen, war Robert. Und der war noch immer im Nirwana der unterirdischen Gänge verschollen.
Was Katie ihren Freunden Rose, Chris und Julia, die sie mit Fragen bombardierten, schließlich berichtet hatte, war eine ziemlich primitive Variante ihrer Erlebnisse gewesen. Und David war ihr zu Hilfe gekommen, hatte sie mit Einzelheiten untermalt, sodass sie am Ende offenbar glaubhaft klang.
»Zunächst einmal sind wir stundenlang durch den Wald geirrt und haben nach Hinweisen gesucht, wo Benjamin gewesen sein könnte«, berichtete Katie. »Schließlich sind wir noch einmal die ganze Strecke abgelaufen, von der Brücke durch den Wald bis zum Bootshaus.«
»Wo wir schließlich seine Jacke gefunden haben«, fuhr David fort. »Mit den Pilzen in der Tasche.«
Sie hatten erklärt, dass sie danach gleich zurückgegangen waren, doch dass David an der Brücke eingebrochen war und sie ihn, so gut es ging, verarzten hatten müssen.
Die Collegeleitung hatten sie völlig außen vor gelassen. Keiner von ihnen hatte die Zeit oder die Lust gehabt, sich mit dem Dean auseinanderzusetzen, mit Verboten, Vorschriften, Vorhaltungen.
Stattdessen hatte Chris von Professor Brandon unter einem Vorwand den Wagen geborgt, um David nach Lake Louise zu bringen, in dasselbe Krankenhaus, in dem Benjamin noch immer auf der Intensivstation lag.
Er hatte, ohne zu zögern, gehandelt und Katie erkannte den Chris, den sie dort auf dem Ghost zu hassen gelernt hatte, nicht wieder. Dieser Ausdruck in seinen Augen, was hatte er bedeutet? Verständnis? Mitleid? Stille Komplizenschaft? Ahnte er, dass sie nicht die Wahrheit sagten?
Kurz bevor sie ins Auto stiegen, hatte Katie David die Pilze gegeben. Sie wusste, er würde nicht eher ruhen, bis sie das Labor der Klinik analysiert hatte. Katie hoffte inständig, dass die Ärzte damit einen Weg fanden, Benjamin zu helfen.
Das einzige Problem war und blieb Julia. Wortlos hatte sie sich Davids und Katies Geschichte angehört und mit erstarrter Miene zugesehen, wie Chris und David in aller Hast aufbrachen. Doch nun, als der Wagen nicht mehr zu sehen war, wandte sie sich zu Katie um und sagte mit gefährlich leiser Stimme: »So und jetzt will ich die Wahrheit wissen, Katie. Ich lasse mich nicht von dir verarschen.«
Katie rührte sich nicht. Gott, wie sehnte sie sich, aus den verdreckten Klamotten zu kommen und eine lange heiße Dusche zu nehmen. Aber das musste jetzt wohl warten.
Normalerweise war Julia eher der ruhige Typ. In sich gekehrt. Oft traurig, und wenn sie doch einmal ausgelassen und fröhlich wirkte, schien es, als ob sie über sich selbst erschräke. Nun war sie die Wut selbst. »Wo, verdammt noch mal, ist mein Bruder?«, zischte sie und ließ sich nicht einmal von Rose beruhigen, die ihre Hand auf ihre Schulter legte. »Ich schwöre euch, wenn ihm irgendetwas zugestoßen ist, was ihr mir verheimlicht, dann … Gnade euch Gott, dir und David.«
Katie schloss für einen Moment die Augen. Sie setzte ihre Freundschaft zu Julia aufs Spiel. »Ich kann es dir nicht sagen, Julia. Ich habe es ihm versprochen und … er wird es selbst erzählen, wenn … wenn er zurück ist. Aber wenn ich heute etwas gelernt habe: Ich glaube, wir alle haben deinen Bruder gewaltig unterschätzt. Selbst du!«
»Was weißt du schon von mir und meinem Bruder?« Julias Gesicht war kreidebleich.
Katie sah ihre Freundin direkt an, schwieg einige Sekunden und sagte dann laut und bestimmt: »Wenig – und vielleicht ist das genau das Problem.«
Es schien, als ob Julia zusammenschrak, bevor es wütend aus ihr hervorbrach: »Wie kannst du nur so gefühllos sein? Aber das ist eben Katie West, oder? Du denkst nicht einen Moment daran, dass er dort draußen alleine ist!« Abrupt wandte sie sich um. »Komm mit, Rose. Wir werden ihn suchen. Bevor es endgültig dunkel wird.«
Katie schüttelte den Kopf. »Hast du schon einmal daran gedacht, dass Robert nicht gefunden werden
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