Die Prophezeiung der Steine
schlug immer wieder an die Tür, doch er ignorierte es. Also trug ich Larch wieder nach Hause, gab ihr auf dem Weg so viel Wasser, wie ich konnte, und suchte Mutterkraut am Straßenrand. Doch es gab keines mehr. Ich brachte sie in den Ziegenstall, weg von dem Tod im Cottage, und dort stillte ich sie auch. Ich badete sie mit kaltem Wasser, löffelte es ihr in den Mund und fächerte ihr zu, um sie kühl zu halten. Es hatte keinen Zweck. Sie erbrach das Wasser, kaum dass sie es geschluckt hatte, und als die Sonne unterging, rann ihr der Schweiß am Körper hinunter.
Vielleicht hätte sie überlebt, wenn ich die Kräuter, wenn
ich Hilfe von einem Heiler bekommen hätte. Seitdem habe ich gesehen, dass andere, die ein genauso schlimmes Fieber hatten, überlebten. Bevor der Morgen graute, war sie tot, in der ruhigen Zeit, wenn sich die Gezeiten der Nacht ändern und die Sterne, kurz bevor sie verblassen, noch einmal heller leuchten. Sie starb, während sie sich mit ihrem Händchen an meinem Hemd festklammerte. Als die kleine Hand sich löste und abfiel, war es, als fiele auch die Welt von mir ab oder ich von ihr, eine Finsternis, die tiefer war als die des Meeres.
An jene ersten Stunden danach erinnere ich mich nicht mehr. Meine nächste Erinnerung ist, dass ich neben den Gräbern stand, die ich ausgehoben und in denen ich meine Familie beigesetzt hatte. Die anderen Toten der Stadt lagen in den Grabhöhlen, aber ich als Wandererabschaum wusste, dass ich gar nicht erst darum zu bitten brauchte.
Es ging auf den Sonnenuntergang zu, drei Tage, nachdem meine Eltern gestorben waren. Ich eilte zurück in das Cottage, damit ich dort sein würde, wenn sie Wiedergänger wurden. Ich schloss die Fensterläden, damit ich sie besser sehen würde, wenn sie kamen. Ich hatte Geister schon immer sehen können, wie mein Papa auch, aber allzu oft geschah es nicht, abgesehen von dem Geist des Stoffhändlers, der in dem Brunnen auf dem Platz in der Stadt umging. Einem Fall von Wiedergängertum hatte ich noch nie beigewohnt, aber meine Eltern hatten es mir beschrieben. Also wartete ich mit klopfendem Herzen in dem dunklen Zimmer. Und dann kamen sie. Sie nahmen auf den Betten, wo sie gestorben waren, Gestalt an, ihre Gesichter nach wie vor von Fieber und Durst entstellt. Dann bewegten sie den Kopf, schauten sich um, suchten mich. Ich trat vor, und sie sahen mich und lächelten.
Ich hatte gedacht, mein Herz wäre abgestumpft, aber das
war es nicht. Es war voller Wärme, voller Tränen, voller Wut. Nur weinen konnte ich nicht. »Ihr seid tot«, sagte ich.
Mama nickte. Papa wirkte überrascht. Dann sah er Mama, verschwommen und zerbrechlich, und stieß einen stummen Seufzer aus. Sie streckten einander die Hände entgegen und wandten sich dann wieder mir zu. Ich konnte nicht weinen. Da war etwas, das ich sagen musste.
»Passt auf Larch auf«, sagte ich.
Kummer überströmte ihrer beider Gesicht, und Mama streckte die Hand aus. Zum ersten Mal spürte ich die Berührung eines Geistes auf meiner Wange, ein Frösteln, das mir unter die Haut ging. Danach verblassten sie.
Am Tag darauf saß ich im Ziegenstall und wartete darauf, dass mein Baby zu mir zurückkehrte. Ich achtete darauf, genau an der Stelle zu sitzen, wo ich gewesen war, als sie starb. Sie kam sanft, ihr kleiner Körper schien sich an meinen zu kuscheln, wie er es so oft getan hatte. Sie wollte mein Hemd packen, aber ihre Hand langte geradewegs hindurch. Dann setzte sie sich aufrecht, überrascht, und wollte meine Wange berühren, doch erneut glitt ihre kleine Hand hindurch. Schließlich bekam sie Angst, und ihr Gesicht verzog sich zu stummem Weinen.
»Nicht doch, meine Kleine, nicht weinen«, sagte ich, »bitte weine nicht, rede lieber mit Mama.«
»Mama«, sagte sie. »Will Mami!« Und sie versuchte, mich zu berühren, konnte es nicht und rief »Nein!«, und ihre Stimme war die furchtbare Stimme der Toten, das Knirschen von Stein auf Stein, das der Fels in den Grabhöhlen verursacht, wenn er zurückgerollt wird. Ich hatte sie doch nur trösten, ihr stummes Weinen beenden wollen. Damals wusste ich nicht, dass es möglich war, Geister zum Sprechen zu bringen. »Mama!«, weinte sie, langte abermals nach mir und verblasste schließlich.
Ich rannte los. Ich rannte weg vor dem Geräusch dieser Stimme, die aus dem Mund meines süßen Mädchens kam, vor seiner Leere und seinem Schmerz. Instinktiv rannte ich zum Wald, als würde ich gejagt, bis ich erschöpft war, bis ich die trostlose
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