Die Prophezeiung der Steine
ein kleines, bewaldetes Tal geworfen. Sie hatten so viel Erde über sie gehäuft, dass sie vor Nahrung suchenden Tieren geschützt waren. Das Tal tauchte namentlich in einem von Rowans Liedern auf, und hieß dort die Lichtung Rabennest.
Es bedeutete, dass Saker die Knochen finden konnte.
In den länger werdenden Frühlingstagen von Whitehaven nach Spritford zu gelangen war für einen Steinedeuter mit Maultier nicht schwer. Wohin er kam, empfand Saker Trauer - um die fehlenden Wälder, die toten Orte ohne Bäume, in denen blassäugige Städter hektisch ihren raffgierigen Geschäften nachgingen. Ihnen wohnte keine Schönheit inne,
keine Anmut, und sie besaßen nicht die künstlerischen, von Geistern beseelten Fähigkeiten seines Volkes. Ohne Wanderer besäße dieses Land, hätten diese Domänen überhaupt keine Kultur. Es war das Volk des alten Bluts, das die Lieder sang, die Felsen bemalte, die Geschichten erzählte und die Tänze tanzte. Diese Eindringlinge, dachte er, überwachen uns nur, weil sie nichts anderes tun können. Vielleicht hassen sie uns deswegen so.
Als er gegen Ende des Tages von Süden kommend auf den Fluss Sprit stieß, hatte er keine Mühe, das an seinem Ufer gelegene Spritford zu finden. Genau in dem Moment, als er den Sprit erblickte, sah er einen Habicht herabstoßen. Er ließ sich zu Boden stürzen und schlug seine Beute, beide Füße dabei nach vorn gestreckt. Dann schlug er seine Flügel zweimal kraftvoll, um wieder abzuheben, ein lebloses Erdhörnchen in den Klauen haltend. Während er langsam aufstieg, erkannte Saker, dass es ein Würgfalke, also ein Saker-Falcon war, und dieses Omen erfreute ihn ungemein.
»Guten Flug, Bruder«, sagte er und pfiff vor sich hin, während er auf das Dorf zuritt.
Jenseits der Cottages erhob sich das Land zu einer Bergkette, durch die der Fluss Sharp floss. Die Lichtung Rabennest, so hieß es in dem Lied, befand sich auf der dem Fluss zugewandten Seite des Dorfes. Eigentlich wollte Saker weiterreiten, um sofort das kleine Tal aufzusuchen. Stattdessen kehrte er im Gasthof ein, nahm sich dort ein Zimmer und deutete der Schwester des Gastwirts die Steine, um sich wie üblich auf diese Weise sein Essen zu verdienen. Er wollte keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
Den Abend verbrachte er damit, den Dorfbewohnern die Steine zu deuten, wobei er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn ihre kleinkarierten Sorgen ärgerten. »Wird mich mein Mädchen heiraten?«, »Weiß mein Mann
Bescheid?«, »Wird das Kalb der roten Kuh durchkommen?«, »Werde ich beim nächsten Vollmond Glück beim Würfeln haben?« Die Städter waren besessen von Belanglosigkeiten, und die Bauern waren auch nicht besser. Keine einzige Frage drehte sich um Wahrheit oder Gerechtigkeit oder wenigstens Wiedergeburt. Es war ein bedauernswerter, blasser Abklatsch jener Männer und Frauen, die dieses Land vor dem Überfall bewohnt hatten. Das Land würde sie nicht vermissen.
»Ich hatte überlegt«, sagte er behutsam zur Schwester des Gastwirts, einer dünnen, aber rotwangigen Frau, »euren Göttern morgen meinen Respekt zu zollen. Wo ist der Altar?«
»O ja, Sir«, sagte sie, »das wird Ihnen gefallen, bestimmt. Der Fels liegt auf der Lichtung Rabennest, auf der dem Fluss Sharp zugewandten Seite der Stadt. Ich zeige es Euch morgen.«
Sie verließ ihn, um einen anderen Gast zu bedienen. Während er dasaß, spürte er, wie ihm ein kalter Schauder über den Rücken lief. Er hatte die Frau nur deshalb gefragt, wo die Götter waren, um am nächsten Morgen eine Erklärung dafür parat zu haben, warum er auf Erkundung ging. Der Altar für die Götter befand sich wahrhaftig an der Grabstätte. Das Entsetzen ob dieser Erkenntnis versetzte ihm einen Schauder. Waren Actons Leute von Sinnen gewesen, den Ort der Götter zu einem Totenacker zu machen? Und warum hatten die Götter dies zugelassen?
Die Frau näherte sich ihm wieder, unsicher, ob er weiter mit ihr plaudern wollte. Sie lächelte ihn nervös an, war bemüht, sich bei ihm einzuschmeicheln, als sichere ihr dies beim nächsten Steinedeuten ein besseres Ergebnis. Sie war eine jener Frauen, die sich von der Zauberei, von der Verlockung der Steine begeistern ließen. Er verachtete sie,
weil sie einerseits darauf brannten, die Fertigkeiten des alten Bluts zu benutzen, aber andererseits diejenigen gering schätzten, in deren Adern es floss.
»Die Götter waren früher näher am Fluss, sagt man«, brachte sie vor. »Als Actons Volk kam,
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