Die Prophezeiung der Steine
baten sie darum, in die Lichtung verlegt zu werden.«
Sehr gut, dachte Saker, die Götter hatten beschlossen, ihren Toten nahe zu sein. Das bedeutete, dass die Götter sich hier, anders als die meisten einheimischen Götter, um die in ihrer Obhut stehenden Menschen sorgten. Die meisten Götter interessierten sich nicht für weltliche Belange und kümmerten sich mehr um die Tiere auf dem Feld als um Menschen. Allerdings gefielen ihnen Opfer sehr wohl, sodass ihnen Menschen in mancherlei Hinsicht nützlich waren.
Diese Götter mussten anders sein. Die Vorstellung ließ ihn frösteln, doch er schüttelte sie ab. Morgen würde er die Toten erwecken, ihre Knochen in den Händen spüren, sie mit seinem eigenen Blut wieder auffüllen. Und ihre Götter würden ihn dabei stärken, wenn er den Zauber anwandte, sodass die Toten sich zurückholen konnten, was ihnen gehörte.
Ash
Ash, der auf der Wanderschaft groß geworden war, schlug sofort wieder jenes lockere, gemächliche Tempo ein, das man den ganzen Tag über beibehalten konnte. Er bemerkte, dass Martine das Gleiche tat, und erinnerte sich daran, dass sie gesagt hatte, früher selbst auf Wanderschaft gewesen zu sein. In dem heftigen Regen gingen sie etwa eine Stunde lang weiter und stiegen dabei über die Hügel, die Turvite umgaben. Es war ein steiler Anstieg, und eine Zeit lang konzentrierte sich Ash einzig und allein darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Als sie die Kuppe der ersten Hügelkette passiert hatten und auf der anderen Seite abstiegen, ließ der Regen etwas nach. Erst als der Wolkenbruch vorbei war, bemerkte Ash, wie sehr er sich gegen den Lärm des prasselnden Regens und die Kälte geduckt hatte.
»Wohin gehen wir?«, fragte er.
Martine drehte sich um und lächelte ihn an. »Endlich fragst du!« Er erwiderte ihr Grinsen und zuckte mit den Schultern. »Wir gehen nach Norden, in das Hidden Valley«, sagte sie. »Um eine …, na ja, nennen wir sie alte Freundin, zu besuchen.« Erneut schaute sie ihn an. »Nein, wir nennen sie nicht so. Ich schulde dir mehr als eine leichtfertige Lüge. Elva ist die Tochter von zwei Menschen, bei denen ich aufgewachsen bin. Wir waren drei Gleichaltrige in unserem Dorf, Lark, Cob und ich - zwei Mädchen und ein
Junge. Lark und ich bekamen unsere Namen am gleichen Tag, nach den Vögeln, die unsere Mütter nach der Geburt sahen - Lark für die Lerche und Martine für die Mehlschwalbe. Wir haben zusammen gespielt, haben gemeinsam Ärger bekommen, wurden gemeinsam bestraft. Als ich klein war, schien es, als würde es immer nur uns drei geben. Aber zwei Mädchen und ein Junge … Natürlich haben wir uns beide in ihn verliebt. Und als die Zeit kam, sich zu entscheiden, hat er sich für Lark entschieden.«
Darüber sann sie ein paar Schritte nach, bevor sie fortfuhr.
»Es lag daran, dass ich … anders war. Ich wusste schon, dass ich die Steine deuten konnte - du weißt, dass Kinder oft Steinedeuten spielen?«
Er nickte.
»Noch bevor ich wusste, was die Runen bedeuteten, konnte ich sagen, was die Steine bedeuteten. Und da war noch mehr … die Geister, die einheimischen Götter … Als er noch klein war, akzeptierte Cob das einfach, aber als es darum ging, wem er in der dunklen Nacht beiliegen sollte, konnte er sich nicht für jemanden entscheiden, der mit Geistern sprach. Das hat er mir gesagt. Also. Vielleicht haben die Götter ja zugehört, denn ihre Tochter Elva war noch weit merkwürdiger als ich. Es war das merkwürdigste Kind, das unser Blut jemals hervorgebracht hat.«
Martine verstummte.
Ash nahm seinen Mut zusammen. »Was war denn so merkwürdig an ihr?«
Sie blinzelte rasch und zwang ihre Erinnerung herbei.
»Sie hat überhaupt keine Farbe an sich, nur Weiß und Rosa - weiße Haut, weiße Haare, rosafarbene Augen. Sie erträgt keine Sonnenstrahlen. Heute weiß ich, dass Kinder manchmal so geboren werden, aber damals hatten wir noch
nie davon gehört. Der Dorfsprecher wollte sie zum Sterben auf den Berg bringen, bis die einheimischen Götter zu ihm sprachen und sagten, sie wollten, dass sie lebte. Aber Cob konnte es nicht ertragen, sie in seiner Nähe zu haben, wohingegen Lark sie hätte lieben können, wenn er sie gelassen hätte. Dann fing Elva an, zu den einheimischen Göttern zu sprechen - praktisch ihre ersten Worte überhaupt richteten sich an sie. Cob konnte es nicht ertragen. Mit ihrem Segen nahm ich sie dann zu mir, kaum dass sie richtig laufen konnte.«
»Und du bist auf die Wanderschaft
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