Die Prophezeiung der Steine
hinabhing, kam Martine an die Straße und lächelte ihn an. »Also dann. Fertig zum Aufbruch?«
Gesellig gingen sie nebeneinander her und genossen dabei die ruhige, frische Bergluft.
»Wie wäre es mit einem Lied zum Zeitvertreib?«, fragte Martine nach einer Weile.
Ash wurde rot und schaute beiseite. »Ich singe nicht.«
»Jeder singt doch«, sagte sie überrascht.
Er schüttelte den Kopf.
»Ach, nun komm aber. Du wirst doch wohl The Green Hills of Pless kennen, oder nicht?«
»Ich kenne eine Menge Lieder. Meine Eltern waren Musiker. Aber ich … ich kann nicht singen.«
Sie schaute ihn neugierig an. »So schlecht kann deine Stimme nicht sein.«
»Ist sie aber.«
»Vielleicht für deine Eltern, wenn sie berufsmäßig Musik gemacht haben. Ich bin doch bloß eine Steinedeuterin. Was weiß ich schon von Musik? Versuch es doch mal. Meine Stimme ist auch nicht so toll.«
Da er das Gefühl hatte, ihr eine Menge zu verdanken, räusperte er sich und fing an, The Green Hills of Pless zu singen.
»Ich bin in dem Land gewandert von Domäne zu…«
Noch bevor er die erste Zeile beendet hatte, sah er den Ausdruck auf ihrem Gesicht und hörte sofort auf. Mit bleicher Miene blieb sie mitten auf der Straße stehen. Ein paar Schritte weiter blieb er ebenfalls stehen und schaute sich zu ihr um.
»Übel, nicht wahr?«, fragte er widerwillig.
Sie runzelte die Stirn, als sei er ein Rätsel, das sie zu lösen versuchte. »Es ist die Stimme der Toten«, sagte sie.
»So schlimm, hä?«, sagte er und bemühte sich, beiläufig zu wirken.
»Nein, es ist wirklich die Stimme der Toten«, beharrte sie. »Absolut identisch.«
Ash starrte sie an. Die Erinnerungen überströmten ihn; der schmerzhafte Ausdruck auf dem Gesicht seiner Mutter, wann immer er als kleines Kind sang; die Art, wie sein Vater sich abrupt abwandte oder den Raum verließ; und dann seine Mutter, die an dem Tag, als er sie verließ, um zu Doronit zu gehen, zu ihm sagte: »Musik ist für dich ja doch etwas Totes«, als wolle sie ihn damit an etwas erinnern, das er bereits wusste. Er hatte es nicht gewusst. Er hatte nicht mehr gesungen, seit er klein gewesen war. Nicht einmal, wenn er allein war. Seine Mutter hatte Recht. Musik war für ihn etwas Totes.
Seltsamerweise erschütterte und tröstete ihn diese Erkenntnis gleichermaßen. Die Stimme der Toten zu haben war etwas Furchtbares, aber offenkundig ein Werk der Götter. Es war nicht seine Schuld, dass er nicht singen konnte; nicht seine Schuld, dass die Musik nicht so aus ihm strömte, wie es bei seinen Eltern der Fall war. Der Sohn von Sängern zu sein und nur eine mittelmäßige Stimme zu haben mochte beschämend sein. Aber das, womit die Götter einen segneten, konnte kein Grund zur Schande sein. Nun konnte er es hinter sich lassen und sich einen neuen Platz in der Welt suchen.
Martine pflanzte sich mitten auf die Straße und holte ihren Beutel Steine heraus. »Komm«, sagte sie, »gib mir deine Hand.«
Mit einer ruckartigen Bewegung ihres Handgelenks breitete sie ein Stück Stoff aus und hielt ihm gebieterisch die linke Hand entgegen. Er sank langsam auf der Straße zusammen, spuckte sich jedoch in die Hand und presste sie gegen die ihre. Sie holte fünf Steine aus dem Beutel und warf sie über den Stoff. Alle landeten mit der Stirnseite nach unten.
»Die Bedeutung liegt im Verborgenen«, sagte sie. Langsam
drehte sie sie um. »Tod. Schmerz. Schmerzlicher Verlust. Der leere Stein, der willkürliche. Und hier, schau - Wiedergeburt. Aber alles verborgen. Alles im Geheimen.«
Sie starrte die Steine konzentriert an.
»Ich kann sie nicht zum Sprechen bringen«, flüsterte sie. »Sie kennen dein Geheimnis, aber mir gegenüber sind sie stumm wie die Geister.« Sie legte eine Pause ein, während der sie nachdachte. »Sag ihnen, sie sollen reden.«
»Was?«
»Sag den Steinen, sie sollen reden.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein … Wenn sie stumm sind, dann soll ich es vielleicht nicht wissen. Vielleicht ist es besser, wenn ich es nicht weiß.«
»Ich habe mein Leben damit verbracht, Wissen anzustreben. Ich glaube nicht, dass es jemals besser ist, etwas nicht zu wissen.«
Trotzig schüttelte er erneut den Kopf. »Du strebst Wissen an für diejenigen, die wissen wollen, die zu dir kommen, um etwas herauszufinden. Das hier war deine Idee, nicht meine.«
Seufzend ließ sie seine Hand los. »Also gut. Vielleicht … vielleicht. Jedenfalls fürs Erste.«
Dann mussten sie einem Pferdewagen voller Kohlköpfe
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