Die Prophezeiung der Steine
Vergebung bitten zu können, muss man erst einmal an sie glauben.
Es war, als habe sich die Welt mitten im Frühling zum Winter verfinstert; meine Tage wurden kürzer, mein Himmel verdunkelte sich. Seit sie geheiratet hatten, der alte Kriegsherr gestorben war und Thegan die Zügel in die Hand genommen hatte, war es eine goldene Zeit gewesen. Er hatte der Domäne so viel Freude, Hoffnung und Energie beschert. Er schien zu leuchten wie die Sonne, und wir wärmten uns an ihm. Nun war mir kalt, und ich fühlte mich älter. Viel, viel älter.
Meine Lady hatte Recht. Ich betete zu den Göttern, damit sie mir die Worte gaben, um Alston die Wahrheit zu enthüllen. Ich betete zu den Göttern um Hilfe, um Trost, um Beistand. Nur sie können uns leiten.
Ash
Im Licht des späten Nachmittags hoben sich die Geister erstaunlich deutlich weiß von dem brausenden Wasser des Flusses und dem matten Salbeigrün der Büsche am Wegrand ab.
»Sie sind stark!«, rief Martine aus.
»So stark wie in Turvite«, stimmte ihr Ash zu. Er fühlte sich ausgelassen, erleichtert. Mehr war es gar nicht, was die Warnung besagt hatte. Eine Gruppe von Geistern! Dann erkannte er, während er sich mit Martine der Furt näherte, dass diese Geister anders waren als alle, die er bisher gesehen hatte.
Es war eine gemischte Gruppe aus Männern und Frauen, doch alle sahen irgendwie gleich aus, irgendwie altertümlich, trugen merkwürdige Kleider, waren schmutzig und ungepflegt. Sie waren kleiner als die meisten Menschen, die größten reichten ihnen gerade einmal bis zur Schulter. Die Männer trugen knielange Röcke und hatten den Oberkörper frei, die Frauen hatten lange Kleider an, die ohne Schlitz von der Schulter über die Hüfte bis zum Boden reichten. Einige hatten Risse in ihren Kleidern; zwei der Männer wiesen dunkle Wunden auf der Brust auf.
Männer wie Frauen trugen Schultertücher, und alle hatten sie lange Zöpfe; die Frauen trugen den ihren auf dem Rücken, die Männer hatten sich ihre kürzeren Zöpfe um
den Kopf gewunden. An das Ende ihrer Zöpfe hatten sie Perlen und Federn befestigt. Ash erkannte, dass sowohl ihre Zöpfe als auch ihre Augen dunkel waren.
Jeder von ihnen, ob Mann oder Frau, hielt ein Werkzeug, vielleicht eine Waffe in der Hand, Sicheln, Messer, Sensen, Holzrechen. Das Metall der Werkzeuge, erkannte Ash, war zwar geisterblass, bestand aber nicht aus Eisen. Da war etwas an der Art, wie das Licht auf seiner Oberfläche reflektierte. Bronze, vielleicht? Die Geister hielten sie sich vor die Brust, als seien sie es nicht gewohnt, sie als Waffen zu benutzen.
Sie hatten fürchterliche Angst - und Wut. Sie blieben zwar reglos stehen, als Ash und Martine auf sie zukamen, waren aber offenbar bereit zur Flucht. Als Zeichen ihrer friedlichen Absicht hob Martine beide Hände. Die Geister hoben den Kopf, um der Geste mit den Augen zu folgen. Und dabei klapperten die Perlen am Ende ihrer Zöpfe.
Ash hatte das Gefühl, als wiche alles Blut aus seinem Körper. So etwas war nicht möglich. Selbst während der Ghost Begone Night - als er den Geistern von Turvite die Freiheit gegeben hatte, zu reden - konnten diese keine anderen Geräusche von sich geben, kein Händeklatschen, kein Geknister von Stoff, während sie rannten, nichts. Es war nicht möglich, dass die Perlen am Kopf eines Geistes klimperten.
»Bitte sie zu reden, Ash«, sagte Martine leise.
Er sah, dass sich auf ihrer Stirn Schweißperlen bildeten. Auch sie hatte es also gehört, das war irgendwie beruhigend.
»Redet«, sagte Ash sanft, um sie nicht zu erschrecken.
Sie schauten ihn verständnislos an. Der Mann, der vorne stand, der größte und muskulöseste, hob seine Sense und machte Anstalten vorzutreten. Auf der Klinge der Sense
war ein Fleck, wie Blut. Ash hatte einen Kloß im Hals und musste schlucken. Wenn die Perlen klimpern konnten, konnte die Sense dann auch durch Fleisch schneiden? Er dachte angestrengt und rasch nach.
» Viven«, sagte er in der alten Sprache.
Erleichterung huschte über die Mienen sämtlicher Geister. Mit einem Mal fingen sie alle gleichzeitig an, hektisch zu sprechen, die alte Sprache herunterzurasseln. Ungeduldig bedeutete ihnen der Mann vorne, ruhig zu sein, um dann mit Nachdruck und rasch zu sprechen. Dann wartete er auf die Beantwortung seiner Frage.
Ash verstand lediglich etwa jedes dritte, vierte Wort. Die krächzende Stimme der Toten machte es noch schwerer, ihn zu verstehen.
» Keiss «, sagte er.
Der Mann wiederholte seine
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