Die Prophezeiung der Steine
größeren Gasthofes. Zwar machte niemand auf, doch ein Schlurfen verriet ihr, dass hinter der Tür gelauscht wurde.
»Sie sind fort«, rief Martine. »Sie sind fort.«
»Wer sagt das?«, ertönte eine Stimme hinter der Tür.
»Fleisch und Blut.«
»Stell dich ans Fenster, damit wir dich sehen können.«
Sie traten ans Fenster. Zwischen einem Riss in den Läden erschien ein Auge und starrte sie an.
»Beweist mir, dass ihr aus Fleisch und Blut seid«, sagte eine hohe Stimme.
Martine zuckte mit den Schultern, zog ihr Messer und stach sich mit der Spitze in den Daumen. Ein dicker Blutstropfen quoll hervor. Vorsichtig wurde die Tür geöffnet.
»Es sind verdammte Wanderer!«, hörte Ash jemanden sagen. »Vielleicht haben sie die … die anderen mitgebracht …«
»Vielleicht auch nicht«, sagte die hohe Stimme. »Sie sind bloß zu zweit.«
Die Frau, die in der Tür des Gasthofes stand, trug einen Verband über Wange und Kopf, und ihr Arm lag in einer Schlinge. Sie war dünn, hatte glattes, blondes Haar, und auf ihren blassen Wangen hatte sie kleine rote Punkte vor Aufregung.
»Was wollt ihr?«, fragte sie und hielt die Tür dabei so, dass sie sie jederzeit schließen konnte.
»Helfen«, sagte Martine. »Herausfinden, was passiert ist.«
»Wir helfen uns schon selbst«, sagte sie. »Was glaubt ihr denn, was geschehen ist?«
»Wir haben die Geister gesehen, an der Furt«, sagte Ash. »Was war denn?«
»Ihr habt sie gesehen? Und sie haben euch nicht angegriffen?« Misstrauen ließ ihre Stimme schärfer klingen.
Die Männer und Frauen hinter ihr nahmen ihre Waffen fester in die Hand. Ash spürte, wie sich ihm die Nackenhaare sträubten.
»Das wollten sie auch«, versicherte er ihr.
»Aber dann sind sie verblasst«, unterbrach ihn Martine, »als die Sonne unterging.«
Die Menge beruhigte sich ein wenig. Ash verkniff sich die Bemerkung, dass er mit den Geistern gesprochen hatte. Martine hatte mehr Erfahrung im Umgang mit Menschen als er; er würde sich zurückhalten und später Fragen stellen.
»Dann kommen sie vielleicht am Morgen wieder zurück«, sagte die Frau nachdenklich.
»Wer weiß. Was haben sie getan?«, fragte Martine.
Die Frau trat beiseite und wies auf den Raum hinter ihr. »Schaut es euch selbst an.«
Ash und Martine traten in den Schankraum. Dort waren die üblichen langen Tische aufgestellt, doch niemand saß an ihnen. Stattdessen lagen auf ihnen vier in Tücher gehüllte Leichen, deren Wunden die Tücher hier und da mit Blut durchtränkt hatten. Eine der Leichen war die eines Kindes. Daneben saß eine Frau, die vor Erschöpfung den Kopf auf die Arme gebettet hatte und sich nach wie vor an eine Falte des Leichentuchs klammerte.
Martine schauderte. Die Frau nickte, als habe Martine eine Prüfung bestanden, und es wurde ihnen gestattet, weiter
einzutreten. Ash hielt den Atem an. Er wusste nicht, wie ihm zumute war.
»Sie sind am Mittag gekommen«, sagte ein alter Mann plötzlich. »Genau zu Mittag, aus dem Nichts heraus.«
»Aus dem Wald«, sagte eine Frau. »Ich habe gerade das Schlachtkalb zum Fleischer gebracht, als sie aus dem Wald traten. Ich habe sie rechtzeitig gesehen und mich im Stall versteckt.«
»Man konnte sie nicht aufhalten!«, sagte ein Mann mit tiefen Wunden entlang seiner entblößten Schultern. »Ich hatte meine Mistgabel dabei und habe einen von ihnen damit direkt in die Brust gestochen, aber es hat ihn nicht aufgehalten!« Er zögerte. »Ich … ich … ich bin weggelaufen«, gab er zu und fing an zu weinen. »Wenn ich geblieben wäre …« Er wandte sich ab.
»Sie sind tot«, sagte die Gastwirtin. »Was hättest du tun können? Das Einzige, was sie aufhält, ist hartes Holz und Stein. Durch die Türen konnten sie nicht kommen.« Sie schaute auf die größte der umhüllten Leichen. »Mein Bruder hat versucht, sie aufzuhalten. Er hätte weglaufen sollen.« Langsam trat sie auf den Tisch zu, bis sie neben der Leiche stand. »Warum bist du nicht weggelaufen?« Sie schlug mit der geballten Faust auf die Leiche ihres Bruders und schluchzte.
Freunde umringten sie, und ein junger Mann klopfte ihr auf die Schulter und bot ihr ein Heißgetränk an. Ash und Martine zogen sich in eine Ecke zurück und setzten sich auf Schemel.
»Wir müssen wissen, ob hier Fremde gewesen sind«, sagte Martine mit leiser Stimme.
»Der Zauberer?«
Sie nickte. »Es ist riskant zu fragen, aber wir müssen es herausbekommen. Danach überlassen wir diese Leute besser
ihrem Kummer. Bevor sie
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