Die Prophezeiung der Steine
Großpapa sind zu Hause. Ich bin über
Nacht auf einem Pferd hierhergeritten - es ist in eurem Stall. Ich bin …« Bramble zögerte.
Sie war instinktiv zu Maryrose geflüchtet, doch nun, da sie hier war, wusste sie, dass sie nicht würde bleiben können. Schon nach nicht einmal einer Stunde schienen die massiven Mauern der Stadt sie zu erdrücken, übten einen viel unangenehmeren Druck auf sie aus, als wenn die einheimischen Götter gegenwärtig waren. In diesem bequemen, sicheren Haus konnte sie nicht leben, ohne dabei verrückt zu werden. Es war Zeit, ihrem ursprünglichen Plan nachzugehen und sich zum Großen Wald aufzumachen.
»Ich gehe auf Wanderschaft«, sagte sie schließlich.
Maryrose verstummte sofort. Sie holte sich selbst eine Schüssel und setzte sich Bramble gegenüber. Dabei starrte sie sie an, als könne sie in ihrer Seele lesen oder wenigstens ihre Gefühle erkennen. Bramble ließ es geduldig über sich ergehen. Maryrose hatte sie schon häufig so angeschaut.
Maryrose machte gerade den Mund auf, um etwas zu sagen, als Merrick hereintrat. Er war so überrascht, wie Maryrose es gewesen war, jedoch wesentlich weniger aufgeregt.
» Hallo. Auf Besuch hier?«
Bramble hatte Merrick schon immer gemocht, und diese leise Begrüßung mit einem Lächeln und einem Klaps auf die Schulter bestätigte sie darin.
Sie nickte. »Bloß ein paar Tage.«
Maryrose aß nachdenklich ihren Porridge. Wie immer kam sie auf den Kern der Dinge zu sprechen.
»Woher hast du das Pferd?«, fragte sie.
Und so erzählte Bramble ihnen die ganze Geschichte, ohne etwas auszulassen. Dabei fiel es ihr schwer, ihre Gefühle in Bezug auf den Rotschimmel und das Reiten zu erklären. Maryrose zu berichten, was geschehen war, war für sie eine Erleichterung. Hätte ihre Schwester noch mit ihr zu
Hause gewohnt, hätte sie sich ihr schon längst anvertraut. Lediglich ihre Überzeugung, dass ihr der Tod bestimmt gewesen war, behielt sie für sich. Die beiden hörten ihr mit wachsender Besorgnis und Verblüffung zu.
»Du bist in den Abgrund gesprungen?«, fragte Maryrose immer wieder.
»Der Rotschimmel ist in den Abgrund gesprungen«, korrigierte Bramble sie trocken. »Ich habe mich bloß an ihn geklammert.«
»Sie haben dich für einen Jungen gehalten?«
»Ja, aber vielleicht fangen sie an, Fragen zu stellen. Daher ist es gut, dass Mama und Papa und Großpapa hierherkommen und bei euch leben. Für den Fall der Fälle.«
»Sie kommen? Gut«, sagte Maryrose abwesend und ließ sich die Geschichte noch einmal durch den Kopf gehen. »Ja, es ist schon beruhigend, in einer freien Stadt zu leben. Wenigstens ein Gutes, das Acton getan hat.«
»Wie meinst du das?«, fragte Merrick.
Maryrose sah ihn mit hochgezogener Braue an. »Acton hat die freien Städte eingeführt, damit die Leute einen Ort hatten, wo ihnen kein Kriegsherr folgen konnte oder Macht über sie besaß. Ich bin froh darüber, dass wir innerhalb der Stadtmauern von Carlion außerhalb ihres Machtbereichs leben! Es war Actons Idee, dass sich die großen Städte der Domänen nur ihren Stadträten gegenüber verantworten müssen.«
»Na ja, so viel weiß ich auch«, sagte Merrick. »Das war ein Geniestreich - Handel zwischen den freien Städten verbindet die Domänen stärker miteinander als die Kontrolle durch einen Kriegsherrn. Aber wieso war das ›wenigstens ein Gutes‹? Du redest ja so, als hätte Acton sonst überhaupt nichts Gutes getan.«
Die beiden Schwestern starrten ihn an. Wie zum ersten
Mal sah Bramble sein braunes Haar und seine haselnussbraunen Augen, ein Vermächtnis der zweiten Generation von Actons Leuten, die nach dessen Tod über die Berge gekommen war. Sie hatten gehofft, Land in Besitz zu nehmen, während die erste Generation der Eindringlinge noch führerlos war. Doch Actons Sohn hatte sich um sie gekümmert - Geschäfte abgeschlossen, Handel getrieben, Land im Westen und Süden zugewiesen. Obwohl Acton vor tausend Jahren ein Feind seiner Vorfahren gewesen war, vergötterte Merrick ihn. Dies wurde durch seine Entrüstung deutlich. Bramble schaute Merrick und Maryrose an, die nebeneinandersaßen, nun aber durch eine unsichtbare Mauer voneinander getrennt wurden. Bramble hoffte, dass dies nicht von Dauer sein würde.
»Unser Großpapa war Wanderer«, sagte Maryrose bedächtig, als denke sie zum ersten Mal darüber nach. »Ich schätze, wir wurden dazu erzogen, Acton anders zu betrachten. Als den Mann, der an der Spitze einer Invasionstruppe stand, die fast
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