Die Prophezeiung der Steine
sie zugleich die Handelszentren der Elf Domänen waren, waren ihre Räte reich und einflussreich.
Obwohl sich der Mond nicht zeigte, ritt Bramble die Nacht durch, auf die Götter vertrauend, die sie bis dahin beschützt hatten. Der Weg war ohnehin gut, da es sich um die Hauptverbindungsstrecke zwischen der Festung des Kriegsherrn bei Wooding einerseits sowie Carlion andererseits handelte, der zweitgrößten freien Stadt auf der Welt. Die Stadt lag an einem natürlichen Hafen, der fast so groß war wie der von Turvite. Allerdings war der Raum zwischen dem Hafen und den ihn umgebenden Hügeln klein und steil, sodass die Gebäude dicht an dicht standen und die Stadt sich zum Meeresufer drängte.
Als Bramble die ersten Häuser erreichte, roch sie das Salzwasser und hörte auch das leise, rhythmische Klatschen der Wellen gegen die Felsen. Doch sowohl der Geruch wie
auch das Geräusch wurden von dem Nebel in ihrem Kopf gedämpft. Der scharfe Salzgeruch drang ihr lediglich in die Nase und ließ nicht ihre Stimmung steigen, wie dies bei ihrem letzten Besuch der Fall gewesen war. Das Geräusch der Wellen klang ausdruckslos, statt beruhigend zu sein.
Sie ritt auf den dunklen und von der Gischt glitschigen Steinen der Straße zwischen den hohen, schmalen Backsteinhäusern entlang. Sie erreichte schließlich Maryroses Hof, noch bevor die Stare sich rührten.
Zum ersten Mal war sie nach Carlion gekommen, als Maryrose Merrick geheiratet hatte, ein Tischler wie ihr Papa und wie Maryrose. Merricks Mutter war Stadtdirektorin, und es handelte sich um eine alteingesessene Familie, sodass Maryroses neues Haus gediegen war und über einen Hof und einen Stall verfügte, obwohl sie noch gar keine Pferde hielten. Leise führte Bramble den Rotschimmel in den Stall. Sie rieb ihn ab, holte ihm Wasser, rollte sich dann in eine Decke ein und schlief, bis sich die Geräusche der Stadt nicht mehr überhören ließen.
Vor der Küchentür zögerte sie. Was, wenn Maryrose sie anschaute und statt einer lebendigen Schwester eine lebende Leiche sah? Was, wenn sie wirklich tot war und es bloß noch nicht wusste? Zum ersten Mal kam ihr der Gedanke, dass ihr Körper womöglich auf dem Boden des Abgrunds lag und die Männer dem Rotschimmel hinterhergejagt waren, nicht ihr. Wenn sie nun ein Geist war, der allzu schnell Wiedergänger geworden war? Es gab nur eine Möglichkeit, dies herauszufinden.
Sie steckte den Kopf durch Maryroses Hintertür. »Gibt es hier Frühstück für eine verhungernde Schwester?«
Maryrose ließ die Schöpfkelle platschend in die Porridgeschüssel fallen. Sie fegte durch die Küche und umarmte Bramble heftig. Sie roch nach Holzrauch, Wolle und Holz,
wie immer vermischt mit einem Hauch Lavendel. Bramble war froh, dass die Heirat dies nicht verändert hatte. Doch selbst Maryroses vertrauter Geruch schien ihr irgendwie weit entfernt. Es war eher eine Erinnerung an einen Geruch als ein wirklicher. Aber mit Sicherheit hatte sie, Bramble, einen stofflichen Körper, den Maryrose sehen und berühren konnte. Bramble erwiderte die Umarmung, ihre Stimmung stieg, und sie beruhigte sich, wurde so ruhig wie nie zuvor, seit sie den Mann des Kriegsherrn getötet hatte. Es war albern, denn es war Jahre her, dass Maryrose etwas für sie tun konnte, was sie nicht selber hätte bewerkstelligen können. Als Bramble darüber nachdachte, kam ihr allerdings doch so manches in den Sinn, was Maryrose konnte und sie selbst nicht - zum Beispiel weben, tischlern und kochen.
»Wie bist du hergekommen? Wo sind Mama, Papa und Großpapa? Was machst du hier?«
»Kann ich erst essen und dann reden?«, fragte Bramble. »Ich verhungere.«
Tatsächlich hatte sie seit dem Vortag nichts gegessen. Doch die fast körperlich spürbare Leere in ihr war stärker als der Hunger. Sie setzte sich an den Tisch und nahm die Schüssel Porridge, die Maryrose ihr reichte. Er roch nussig und süß, aber sehr schwach, als rieche sie ihn aus einem anderen Zimmer. Sie streute ein wenig Salz darauf und nahm einen Löffel zu sich. Auch der Geschmack war verhalten. Wie ein gedämpftes Feuer , dachte sie, oder wie Sonne hinter Wolken. Sie aß ihn trotzdem. Wenn sie sich so verhielt, als lebte sie, würde sich der Nebel ja vielleicht lichten, und sie wäre wieder normal. Daran glaubte sie nicht wirklich, aber was sollte sie sonst tun? Sich hinlegen und wahrhaftig sterben? Wer würde sich dann um den Rotschimmel kümmern? Sie nahm noch einen Löffel Porridge.
»Mama, Papa und
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