Die Prophezeiung der Steine
war sie, gegen die Wand gedrückt. Und dort war er selbst, das Messer in der Hand, die Klinge aufblitzend, als er damit zum zweiten, zum tödlichen Stich ausholte.
»Nein!«, schrie er und machte einen Satz nach vorn, um nach dieser Hand zu greifen. Noch in der Bewegung erkannte er seine Dummheit, denn einen Geist konnte er nicht berühren, konnte einen Spuk nicht berühren, er würde direkt durch ihn hindurch …
Stattdessen rannte er in einen massiven, muskulösen Körper hinein, der viel größer war als der seine. Sein Verstand hörte auf zu denken, doch sein Körper wusste, was zu tun war. Die monatelange Ausbildung hatte ihn Reflexe gelehrt, von denen er zuvor gar nichts gewusst hatte. Halte das Messer fern, schüttele es ab. Mit einer einzigen raschen Bewegung packte er die Hand des Mannes und schlug sie heftig gegen das Kopfsteinpflaster. Das Messer rutschte weg, und als sie beide wieder auf die Beine kamen, stellten sie sich argwöhnisch einander gegenüber.
Der andere war ein großer, schwerer Mann, zweifellos stärker. Aber Ashs erster Hieb hatte Wirkung gezeigt, denn der Mann schonte ein Bein, als habe er sich den Knöchel verdreht, und er zuckte zusammen, als er damit auftrat.
Als er sah, dass Ash dies bemerkte, machte er einen Satz nach vorn, um mit seinen großen Händen seine Kehle zu packen. Drunter und hoch . Ash duckte sich bei dem Angriff und nutzte den Schwung seines Gegners, um ihn in die Luft zu schleudern, sodass der Riese unsanft mit dem Rücken zuerst auf dem Kopfsteinpflaster aufschlug. Ash zog sein Stiefelmesser. An diesem Ort das Messer in der Hand zu haben, ließ seinen Verstand wieder erwachen und die Kontrolle über seine Reflexe gewinnen. Er wollte nicht noch jemanden töten.
»Ich will dich nicht töten«, sagte er. In seiner Stimme lag Aufrichtigkeit, zugleich jedoch die absolute Überzeugung, dass er diesen wesentlich größeren Mann würde töten können. Auch der Mann hörte das, rappelte sich vom Pflaster auf und wich mit zum Zeichen seiner Aufgabe erhobener Hand zurück. Er jagte um die Ecke, und Ash hörte, wie seine schnellen Schritte auf dem Platz widerhallten.
Erst da wandte sich Ash dem Mädchen zu.
Natürlich war es nicht das Mädchen. Es war überhaupt kein Mädchen, sondern vielmehr der kleine Juwelier mit dem großen Schnurrbart. Kaum hatte Ash ihm vom Pflaster, auf das er gestürzt war, aufgeholfen, fing der Mann voller Dankbarkeit und Schock an zu plappern.
»Oh, bei den Göttern, wenn du nicht gekommen wärst, er hätte mich umgebracht , wirklich umgebracht … Er hatte nämlich ein Messer, hast du es gesehen, er hatte ein Messer und wollte mich t-t-töten …«
»Das ist eine beliebte Stelle dafür«, sagte Ash. »Es ist gut, es ist alles gut, er ist weg, er kommt nicht wieder … Sie sind jetzt in Sicherheit.« Seine Worte schienen auch ihn selbst zu beruhigen, er war jetzt eine Schutzwache mit einem Kunden, kein Narr, der auf einen Geist reagierte, der gar nicht da war.
Nach einer Weile schluckte der Juwelier heftig und nahm schließlich wieder eine halbwegs normale Haltung ein. »Ich muss zurück in meinen Gasthof … er ist da unten an den Docks …« Ängstlich spähte er aus der Gasse auf den menschenleeren Platz. »Du könntest wohl nicht …«
»Ich begleite Sie«, sagte Ash resigniert. Gemeinsam gingen sie über den Platz, wobei sich der Juwelier bei jedem zweiten Schritt umschaute. »Was haben Sie denn überhaupt in dieser Gasse getan?«, fragte Ash. »Das ist nicht gerade der sicherste Ort in der Stadt.«
»Ich war gar nicht in der Gasse!«, sagte der Juwelier entrüstet. »Ich war bloß nach dem Essen bei einem Kunden auf dem Heimweg zu meinem Gasthof und bin über den Platz gegangen, als dieser … dieser Schläger mich gepackt hat.«
»Sie sollten eine Schutzwache einstellen, wenn Sie nachts in der Stadt umherlaufen«, schalt ihn Ash.
»Morgen gehe ich nach Hause«, sagte der Juwelier mit offenkundiger Erleichterung. »Zurück nach Carlion. Dort ist es viel sicherer.«
Schweigend gingen sie weiter, bis sie das Fifty Friends erreichten, einen gut gehenden Gasthof mit einem Anbau für Gästezimmer.
Unter der Fackel, die dafür sorgte, dass betrunkene Gäste sich nicht das Genick brachen, wenn sie die Stufen hinaufgingen, hielt der Juwelier inne. »Ich stehe in deiner Schuld«, sagte er.
Ash schüttelte den Kopf. »Nein, das tun Sie nicht, wirklich nicht.«
»Doch, doch, das tue ich. Ich bezahle meine Schulden.« Er wühlte in seinem
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