Die Prophezeiung der Steine
Kaninchenfell gefertigt hatte. Aus häuslichen Dingen hatte sie sich noch nie etwas gemacht, und schließlich war nun auch ihre Mama nicht mehr da, die nörgelte: »Sieh zu, dass dein Zimmer schön aussieht.« Von den Haushaltsarbeiten abgesehen, ließ sie das Cottage, wie es war, und empfand beim Betrachten der schmucklosen Wände und dem Mangel an Besitztum eine neue Form von Freiheit. Immer wenn sie daran dachte, wie wenig sie besaß, fühlte sie sich unbeschwert, fast frei.
Gorham übertrug ihr die Verantwortung für die Pflege der Pferde, die aus dem ganzen Land zum Zureiten zu ihnen gebracht wurden, und das bedeutete meist, sehr vertraut
zu werden mit Mist und Striegeln. Gorham war ein großzügiger Mensch, und schon am Tag nach ihrer Ankunft fing er damit an, sie in seinem Handwerk zu unterrichten. Er hatte sich als Zureiter einen Namen gemacht, aber am Ende des zweiten Jahres, nachdem Bramble sich ihm angeschlossen hatte, erkannte er an, dass sie ihm ebenbürtig war. Sie hätte schon vorher wieder auf die Wanderschaft gehen können. Das hatte sie jedenfalls vorgehabt. Doch das war, bevor sie ihr erstes Jagdrennen gesehen hatte.
Pless war berühmt für seine Jagdrennen; es gab Rennen bei den Herbst- und Frühjahrsfesten, nach der Ernte und nach der Aussaat. In jenem ersten Herbst nahm Gorham sie mit, um sich ein Pferd anzuschauen, das er für das größte aller Jagdrennen, dem Pless Challenge, als Rennpferd ausgebildet hatte. Bramble hatte noch nie ein Rennen gesehen, kannte nicht einmal die Regeln. Die Gegend um Wooding war zu hügelig, und es gab zu viele Schluchten und Felsspalten für Jagdrennen. Den mit ihnen verbundenen Aberglauben kannte sie allerdings sehr wohl.
Das Herbstrennen war das älteste, und seine Tradition ging noch auf die Zeit zurück, bevor Acton über die Berge gekommen war. Die Jagdbeute, welche die Verfolger über die Strecke leitete, verkörperte das Ende des Jahres, hatte ihre Großmama einmal erzählt, und die Verfolger waren die Jäger, die das Jahr zu Tode hetzten. Der rote Schal, den die Jagdbeute trug, war das Symbol seines Blutes.
Das Frühjahrsrennen war wesentlich jünger, wurde zu Pferd erst seit etwa einhundert Jahren ausgetragen, mochte es auch schon zuvor im Frühling immer einen Wettlauf gegeben haben, um das neue Jahr zu feiern. Die Jagdbeute im Frühjahr verkörperte das neue Leben, und es galt als großes Glück für einen Reiter, wenn es ihm gelang, die Jagdbeute noch vor der Ziellinie zu erwischen und den roten Schal an
sich zu reißen. Wenn dies jemandem gelang, wurde er zur wiedergeborenen Jagdbeute.
Obwohl es mittlerweile mehr ein Sport als ein Ritual war, glaubten viele nach wie vor, dass ein Reiter, der beim Frühjahrsrennen der Jagdbeute das rote Banner abnahm, etwas Besonderes war, ein von den Göttern Auserwählter. Hingegen galt es als großes Unglück, wenn jemand beim Herbstrennen das Banner an sich riss. Dann hieß es, er oder sie sei binnen eines Jahres dem Tode geweiht.
Bramble stand mit Gorham auf einem Hügel etwa eine halbe Meile von Pless entfernt, gemeinsam mit den anderen Zuschauern, mindestens der halben Stadt, und schaute zu, wie die Reiter sich am Stadttor versammelten. Unter den sich wild drängelnden Pferden und Reitern, alle mit einem leuchtend bunten Tuch um den Hals, war einer, der auf einem kräftigen Grauschimmel saß und eine mit einem roten Banner umwickelte Lanze hielt.
»Das ist die Jagdbeute«, erklärte Gorham. »Er startet vor den anderen. Sie zählen bis fünfzig, und dann starten die insgesamt acht Reiter. Sie müssen genau seinem Weg folgen, über die Hindernisse, die er aussucht, und der Erste, der die Ziellinie überschreitet, gewinnt.« Er wies auf ein etwa eine halbe Meile entferntes Gatter, an dem eine kleine Gruppe Männer wartete.
»Das ist alles?«
»Das reicht«, lächelte Gorham. »Wir halten Ausschau nach Golden Shoes - sein Reiter trägt ein blaues Halstuch.«
Sie erspähte Golden Shoes, einen munteren Fuchs, der zur Seite scheute, weg vom roten Banner der Jagdbeute. Energie hatte er genug, dachte sie.
Die Jagdbeute machte sich auf den Weg. Spontan fingen
die Zuschauer auf dem Hügel an, wie aus einem Mund zu zählen, während der Reiter sein Pferd an das erste Hindernis führte, und bei »… achtundvierzig, neunundvierzig, fünfzig!« preschten die Pferde am Stadttor los und kämpften um ihre Positionen. Sie nahmen den ersten Sprung über ein leichtes Koppelrick, doch als sie den Hügel hinauf auf die
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