Die Prüfung: Kriminalroman (German Edition)
verzog leicht das Gesicht. »Ich hätte gedacht, dass Wallner dir gegenüber mal etwas erwähnt hat.«
»Nein. Hat er nicht.« Schönlieb hatte keine Ahnung, was Holding meinen könnte.
»Also … Wallners Frau ist heute gestorben. Sie hatte Krebs.«
Schönlieb schnappte nach Luft. Er versuchte es sich vorzustellen, wie Wallner sich fühlen musste. Er konnte es nicht. Wie sollte er auch? Er hatte Wallner schon oft die schrecklichsten Dinge gewünscht, ihn verflucht und sich gewünscht, er möge nie wieder ins LKA kommen, aber jetzt, jetzt tat er ihm unendlich leid. Das Bild, das Schönlieb von Wallner hatte, brach mit einem Mal zusammen. Der grummlige, unnahbare Mann, sein Partner und Gegner, war für ihn nur noch eine traurige Figur.
Schönlieb schwieg. Er konnte dazu nichts sagen. Was sollte er dazu sagen? Oh, das tut mir leid? Das konnte sich Holding denken, und außerdem hatte Holding nicht das Geringste damit zu tun.
Eine Zeit lang standen sie sich einfach schweigend gegenüber, bis Schönlieb endlich das Büro verließ.
Kapitel 47
Beerdigungen waren nicht Schönliebs Sache, dennoch war es für ihn ein Ritual geworden, den Toten, seinen Toten, die letzte Ehre zu erweisen. Etwas abseits stellte er sich in die Nähe der Trauergemeinde und nahm ganz für sich Abschied.
Abschied von Menschen, die er oft sehr gut kennengelernt hatte, ja, oft besser als die wenigen Freunde, die er hatte.
Schönlieb sah zu der Ansammlung von schwarz gekleideten Menschen hinüber, die vor dem offenen Grab standen. Er erkannte die Eltern von Huynh und die zwei kleinen Schwestern. Sie standen ganz vorne und begannen jetzt einer nach dem anderen, mit einer kleinen Schaufel etwas Erde in das Grab zu schütten. Huynhs Mutter sackte danach weinend zusammen und fiel in die Arme ihres Mannes. Als Nächstes waren andere Verwandte dran.
Als die Verwandten fertig waren, kamen die Freunde an die Reihe, allen voran Marie. Ihr Vater hielt sie fest im Arm, wirkte sonst jedoch ziemlich anteilslos. Marie schluchzte so laut, dass selbst Schönlieb es noch sehr gut vernahm. Sie konnte kaum in das Grab hineinschauen, und er hatte das Gefühl, sie wollte alles so schnell wie möglich hinter sich bringen. Wer konnte es ihr verdenken?
Schönlieb schaute zum Himmel. Er mochte es, wenn es regnete bei Beerdigungen, doch diesmal regnete es nicht. Ein zynisch blauer Himmel, mehr nicht.
Nachdem alle Erde in das Grab geworfen hatten, machte sich die Trauergemeinde langsam in alle Richtungen davon. Auch Schönlieb machte sich auf den Weg. Jetzt war der Fall auch für ihn komplett abgeschlossen. Er würde nicht weiterverfolgen, was mit Benjamin, der in Untersuchungshaft saß, passieren würde. Es interessierte ihn nicht mehr. Man musste in diesem Beruf auch loslassen können.
Während er zu seinem Fahrrad schlenderte, von dem er nicht geglaubt hätte, es vor Weihnachten tatsächlich noch einmal benutzen zu können, und die Namen auf den Grabsteinen las, dachte er an Wallner. Irgendwo hier würde auch seine Frau begraben werden. Ob Wallner wieder zurückehren würde? Er unterdrückte die aufsteigende Freude darüber, dass Wallner vielleicht nicht zurückkam, so schnell es ging.
Schönliebs Fahrrad lehnte an einem metallenen Baumschutz am Rande des Parkplatzes. Er schloss es gerade auf, als er am Ende des Parkplatzes Marie und ihren Vater entlanggehen sah. Sie steuerten auf einen weißen Mercedes zu und stiegen ein. Ein weißer Mercedes.
Plötzlich stockte Schönlieb. Bilder blitzten in seinem Kopf auf. Mit einem Mal sah er es ganz klar. Der weiße Mercedes, der angeblich Benjamins Tante gehörte! Er hatte es nie überprüft. Er hatte es verdammt noch mal nie überprüft! Und jetzt musste er es nicht mehr überprüfen, denn jetzt, wo er Marie in den Mercedes einsteigen sah, hatte er plötzlich das Bild, das er in der Scheibe des Cafés gesehen hatte und das so verschwommen gewesen war, ganz klar vor Augen. Es war Marie, die in das Auto eingestiegen war! Sie hatte zusammen mit Benjamin in dem weißen Mercedes gesessen. Zusammen mit Benjamin, den sie angeblich nicht kannte und der behauptet hatte, dass sie noch nie ein Wort miteinander gewechselt hatten.
Schönlieb sprang auf sein Fahrrad und trat, so schnell er konnte, in die Pedale. Auf dem matschigen Boden rutschte sein Hinterrad zweimal bedrohlich zur Seite, doch er konnte sich jedes Mal fangen und das Fahrrad zurück ins Gleichgewicht bringen. Der weiße Mercedes parkte gerade aus. Er trat noch
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