Die Prüfung: Kriminalroman (German Edition)
erschreckte trotzdem fürchterlich, schrie laut auf und riss sich die Kopfhörer vom Kopf.
»Wer sind Sie? Und was wollen Sie hier?« Schönlieb hatte das Gefühl, dass sie kurz davor war zu weinen. Er entschuldigte sich mehrmals und versuchte, sie zu beruhigen. Anschließend zeigte er ihr seinen Ausweis und stellte sich vor. Er zeigte ihr auch das Foto.
»Das ist Ihr Freund, oder?«
»Ja, wieso?«
Schönlieb blickte kurz zu Boden. Für so etwas war doch Wallner zuständig.
»Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass wir Huynh am Freitagabend tot aufgefunden haben. Er wurde wahrscheinlich ermordet.«
Marie blickte Schönlieb fassungslos mit weit aufgerissenen Augen an. Einen kurzen Augenblick blieb die Zeit stehen, weder drinnen im Haus noch draußen rührte sich etwas. Selbst die Äste der Bäume vor dem Fenster schienen zu erstarren. Nichts wagte sich zu bewegen oder auch nur das kleinste Geräusch zu machen. Vakuum. Dann fing sie an zu weinen.
Es dauerte eine Weile, bis sie so weit war, wieder sprechen zu können. Schönliebs gesamte Packung Taschentücher, die er in der Tasche gehabt hatte, war vonnöten. Die Ritalintabletten hatte er unauffällig ausgewickelt und sie in die leere Taschentuchpackung gesteckt. Marie lag bäuchlings auf ihrem Bett und vergrub sich in ihrem Kissen.
»Ich weiß, das ist sehr schwer, aber ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen«, sagte Schönlieb, möglichst ruhig und sanft. Was ihm jedoch nicht so gut gelang, wie er fand. Marie schluchzte etwas in ihr Kissen. Schönlieb verstand es nicht, nahm es aber als Okay, ihr Fragen zu stellen.
»Haben Sie irgendeine Idee, wer Huynh getötet haben könnte?«
»NEIN!«
»Wann haben Sie Huynh das letzte Mal gesehen?«
»Freitag in der Bibliothek.«
»Freitag? Um wie viel Uhr?«
»Keine Ahnung. Er ist tot! Ich werde ihn nie wiedersehen!«
Marie drehte sich um und blickte hinauf zu Schönlieb. Ihre Augen waren rot umrandet, aus ihrer Nase lief Schnodder.
»Es ist wichtig. Ich muss das wissen. Nur so haben wir eine Chance, den Mörder zu finden.«
»Das bringt ihn auch nicht zurück!«
»Nein.« Schönlieb senkte den Kopf, drehte sich um und schaute aus dem Fenster. Da hatte sie recht. Es würde Huynh nicht zurückbringen. Er kam immer nur, wenn alles zu spät war, wenn das Unglück schon passiert war.
Er konnte von hier aus die Elbe sehen. Draußen war es dunkel geworden. Man sah Lichter auf der anderen Seite des breiten Flusses.
»Es muss so gegen fünfzehn, sechzehn Uhr gewesen sein«, sagte Marie leise.
Schönlieb schaute weiter auf die Elbe. »Erzählen Sie mir davon, wie Sie ihn das letzte Mal gesehen haben.«
Es dauerte eine Weile, bis Marie anfing.
»Es war nichts Besonderes. Wir waren beide zum Lernen in der Bibliothek. Im Januar und Februar stehen wieder Prüfungen an. Wir haben gelernt, mehr nicht. Wir waren nicht mal im selben Stockwerk. Zwischendurch haben wir uns immer wieder kurz besucht und uns aufgemuntert. Er hat mir bei ein paar Sachen geholfen. Er ist ja schon weiter. Später hat er sich dann verabschiedet, und ich bin noch geblieben. Wir wollten uns am Samstagabend treffen.«
»Samstagabend? Das ist vier Tage her«, sagte Schönlieb.
»Ja. Ich habe ihn tausendmal auf dem Handy angerufen und etliche SMS geschrieben. Selbst bei ihm zu Hause habe ich angerufen, aber da ist keiner ans Telefon gegangen. Natürlich habe ich zwischendurch auch gedacht, ob ihm etwas passiert ist, aber …« Die letzten Worte verschluckte sie und fing wieder an zu weinen. »Wir haben einfach nur gelernt. Es war so wie immer«, schluchzte sie. »Ich wünschte, es wäre anders …«
Schönlieb setzte sich neben sie auf das Bett. Solche Situationen, in denen Menschen trauerten, waren nichts für ihn. Sollte er ihr die Hand auf die Schulter legen? Durfte er das? War das angemessen? Mal sehen. Er legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie zuckte kurz. Dann drehte sie sich zu ihm um, lehnte ihren Kopf an seinen Arm und weinte. Schönlieb klopfte ihr etwas unbeholfen auf die Schulter.
»Man kann sich das nicht aussuchen, den letzten Moment«, versuchte er, sie zu trösten. Er dachte an seinen Vater. Sein Vater und er, sie hatten gar keinen letzten Moment gehabt. Als der Autounfall passiert war, als man ihm sagte, dass sein Vater tot war, da war das Erste, was er gedacht hatte, dass er jetzt nie erfahren würde, warum seine Mutter verschwunden war. Tage später erst hatte die Trauer begonnen und der Versuch der Erinnerung daran, wie der
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