Die Prüfung: Kriminalroman (German Edition)
Augenlid des Professors. Volltreffer.
»Anna Lindner?« Meininger schien zu überlegen, woher er den Namen kannte.
»Ja. Genau. Anna Lindner.«
»Ich betreue sie als Prüfer. Warum?«
»Nur so.«
»Na dann … muss ich Sie – wenn Sie keine weiteren Fragen haben – leider bitten zu gehen. Ich habe gleich einen Termin mit dem Dekan.«
Schönlieb war für das Erste zufrieden. Der Professor hatte eine Reaktion gezeigt, und wenn es nur eine winzig kleine gewesen war.
»Vielen Dank für alles. Vor allem für die Hilfe bei dem Bibliotheksvorfall.« Schönlieb lächelte betont freundlich. Der Professor nickte väterlich.
Sie verabschiedeten sich und gaben sich erneut die Hand. Der Händedruck war jetzt jedoch ein bisschen fester als beim ersten Mal. Der Professor schaute Schönlieb direkt in die Augen.
»Und wenn es mal eine Gelegenheit gibt, bei der Sie sich für mein Entgegenkommen in der Beschwerdesache revanchieren können, sage ich Ihnen gerne Bescheid.« Er funkelte Schönlieb an und lächelte sein Colgate-Lächeln. Ha! Schönlieb hatte ja gleich gewusst, dass die Sache einen Beigeschmack behalten würde. Der Beigeschmack war aber wesentlich bitterer, als er vorher vermutet hatte.
Dann wünschte der Professor Schönlieb einen schönen Tag und schloss hinter ihm die Tür.
Schönlieb war froh, als er wieder draußen vor dem Rechtshaus stand. Er atmete kräftig aus und blickte die große Atemwolke an, die aus seinem Mund strömte. Er mochte es, wenn man seinen Atem sehen konnte. Es gab dem ganzen Vorgang so etwas Greifbares.
Er dachte noch einmal kurz an Anna und an den Professor. Ob sie wirklich eine Affäre mit dem alten Sack hatte? Mit seinem neuen Freund , dem Professor. Jetzt hieß es erst einmal: Eine Hand wäscht die andere. Ein Schauer lief Schönlieb über den Rücken.
Auch wenn er nicht vorhatte, sich auch nur eine Sekunde lang wegen dieses dämlichen alten Wachmanns von dem Professor erpressen zu lassen, interessierte es ihn schon, womit der Professor bei ihm antanzen würde.
Schönlieb steckte die Hände in die Tasche und ging zurück quer über den Campus. Er wollte den Bus nehmen, zur U-Bahn fahren und dann zurück ins Büro.
Etwas an diesem Fall gefiel ihm nicht. Aber er musste vorankommen, er hatte zu Max gesagt, er würde alles tun, um den wahren Mörder zu finden. Tat er wirklich alles? Hatten sie etwas übersehen? Etwas falsch eingeschätzt? Wo konnte er ansetzen? Es gab bisher keinen Tatverdächtigen, der ihm wirklich plausibel erschien. Er ging alles noch einmal im Kopf durch: Huynh hatte Ritalin verkauft, erst nur an seine Kumpels, dann wahrscheinlich im größeren Stil, und Johann hatte ihm geholfen. Angeblich gab es niemanden, der ihm dieses Geschäft streitig machen wollte, außer vielleicht Johann, der nicht ganz zufrieden mit seinem Anteil zu sein schien. Max hatte die Pillen besorgt, doch er wollte das nicht ewig machen. Huynh bekam Lieferschwierigkeiten. Er musste damit rechnen, dass er auf lange Sicht nicht mehr über Max an das Ritalin herankommen würde. Das war viel Geld, was Huynh durch die Lappen gegangen wäre. Und nach allem, was Schönlieb bisher über Huynh erfahren hatte, pflegte er einiges auszugeben, alleine schon um Marie, Johann und die anderen zu beeindrucken. Nein, nicht um sie zu beeindrucken, um mit ihnen mithalten zu können. Doch Huynh, so hatte Max gesagt, hatte eine neue Ritalinquelle in Sicht gehabt, eine, die ihn von Max unabhängig machen würde. Das war der Punkt, an dem sie dringend weiterkommen mussten. Sie mussten herausfinden, wie Huynh den einbrechenden Ritalinverkauf kompensieren wollte – wer der neue Lieferant war.
Rechts von Schönlieb lag der Parkplatz, links passierte er gerade die Pony Bar. Sie war gut gefüllt, und an den meisten Tischen saßen Grüppchen von Studenten, die heißen Tee oder Kaffee tranken und sich unterhielten. Die Pony Bar hatte eine große Glasfassade, die Studenten saßen wie in einem Schaufenster. In der Schaufensterscheibe erkannte Schönlieb sich selbst. Von seinen Haarspitzen tropfte der geschmolzene Schnee auf sein Gesicht.
Plötzlich ließ ihn etwas innehalten. Etwas, das sich ebenfalls im Schaufenster gespiegelte hatte. Irgendetwas, das nicht stimmte. Was war es gewesen? Schnell drehte sich Schönlieb um und suchte mit seinem Blick den Parkplatz ab. Etwas hatte ihn stutzen lassen, doch außer einiger parkender Autos konnte er nichts entdecken. Nichts, das irgendwie ungewöhnlich war. Das konnte doch nicht
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