Die Pubertistin - eine Herausforderung
normale Familie, die sich ums Feuer versammelt und isst, was die Kelle gibt. Nach nur fünf Jahren trat sogar die Schwester ihr Recht auf Fleischlosigkeit ab – sie hatte eines Nachts, unter dem Einfluss weicher Drogen, in einem hauptstädtischen Imbiss Döner gegessen und nach diesem Premiumgeschmackserlebnis beschlossen, wieder in unserenKlub einzutreten. Und so hätte es immer weitergehen können, hätte nicht die Tante der Pubertistin diesen verdammten Sandwichtoaster geschenkt.
Wie in einer Zeitschleife sitzen wir nun wieder am Tisch und streiten darüber, was eine angemessene Portionsgröße ist, was GENUG im Zusammenhang mit zwei Spiegeleiern bedeutet und warum, verdammt, sie eine halbe Stunde vor dem Abendessen Toast, Ketchup, Schinken, Käse in ihren weißen Kasten wirft und dann keinen Hunger mehr hat. Der Koch ist sowas von beleidigt, dass ich schon mal die Taschentücher bereithalte.
Ein schöner Zufall will es, dass uns gerade jetzt Tim und seine Mutter besuchen. Die beiden sind zu Besuch in Europa, und vor allem Tim will seine lustige und lautstarke Freundin, die Pubertistin, mal in ihrem natürlichen Lebensumfeld besuchen. Tim ist jetzt neun, er isst, außer Zuckerhaltigem, ausschließlich Toastbrot und Gouda. Es handelt sich hier um eine Art Extremdiät, denn die Beschaffung des Käses – der zwingend mittelalter Gouda sein muss – stellt in jenem fernen Ausland, in dem die Familie lebt, eine große Herausforderung dar. Dort kann manZiegenkäse, Schafskäse in mannigfachen Sorten kaufen. Aber mittelalten Kuhmilch-Gouda führen die örtlichen Lebensmittelhändler eher nicht.
Seine Mutter, unsere Freundin, verzweifelt fast daran. Mit gedämpfter Stimme erzählt sie uns, wie sie seit Monaten versucht, den kleinen Gesellen wenigstens zu bewegen, mal etwas anderes zu kosten. Humus zum Beispiel, oder Pitabrot. Wir wissen Rat und führen sie in die Küche, wo am Kühlschrank noch immer unser Friedensvertrag hängt. Und was sehen wir? Glücklich sitzen die Pubertistin und Tim am Tisch. Er mampft ihre Toast-Ketchup-Schinken-Käse-Spezialität, und sie schaut ihm zufrieden dabei zu. Gerade besprechen sie, wie schön es wäre, wenn sie Geschwister wären, dann könnten sie nämlich gemeinsam ihrer Leidenschaft für Billiglebensmittel frönen. Seine Mutter müsste auch nicht kochen, denn die Pubertistin würde ihren Sandwichtoaster sowie einen Jahresvorrat mittelalten Gouda mitbringen. Die Schinkenbeschaffung allerdings könnte in jenem fernen Ausland ein echtes Problem darstellen. Aber auch das würde unsere Feinschmeckerin in den Griff kriegen. Trashfutter, das man in einen weißen Kasten werfen kann, findet sie mühelos überall auf der Welt.
Das blonde weiche Haar, die helle, nahezu pickelfreie Haut, und seit der Kieferorthopäde fachgerecht sein Handwerk versieht, bilden auch die immer gerader werdenden Zähne einen äußerst ansprechenden Anblick. Erwähnte ich schon ihre Augen? Dunkel und mit so süßen Fältchen in den Winkeln! Alles ist dran an dieser Zeitgenossin, im Kopf hat sie auch was, wir müssen eigentlich nur noch an der einen oder anderen Sozialkompetenz schrauben. Aber sonst – perfekt!
Die so Gepriesene sieht die Sache selbstredend völlig anders. Diese unmöglichen X-Beine! Die riesige Nase, die voll kleinen Augen und die viel zu schmalen Lippen – von weiteren Abfälligkeiten ihrerseits will ich hier schweigen. Sie muss es wissen, denn wo immer sich die Gelegenheit bietet, ob in Geschäften, vor Schaufenstern oder im Suppenlöffel – stets überprüft die Pubertistin sehr kritisch ihr Aussehen.
Dass es so nicht weitergehen kann mit der Durchschnittlichkeit, dem ganz und gar Gewöhnlichen, ist ja wohl klar. Und deshalb ruft die Pubertistin mich heute in einer dringenden Angelegenheit im Büroan. Folgendes, sagt sie, und in ihrer Stimme nehme ich äußerste Entschlossenheit wahr: Ich lasse mir ein Piercing machen. Machen!, sagt sie. Nicht: Stechen. Sie denkt, sie ist schlau und kann mich mit fein gewählten Vokabeln täuschen. Aber ich habe sie sehr wohl verstanden und reagiere entsprechend unentspannt. Nein, sage ich.
Am anderen Ende fassungsloses Schweigen. Dann: Wie – nein? Nein, sage ich, nein wie nein. Offenbar hat sie mit dieser klaren Ansage wirklich nicht gerechnet. Sie hat sich das halt so überlegt. Hatte ja genug Zeit dafür während der langen Nachmittage in ihrem Zimmer, wo sie, statt Hausaufgaben zu machen, die Gelegenheit wahrgenommen hat,
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