Die Pubertistin - eine Herausforderung
Überall kleine Mitläufer, überall dieselbe Angst, die nächste Meta, der neue Hans zu werden.
Blöderweise sind Lukas’ Eltern nicht gekommen. Wir fangen gerade an, uns alle richtig darüber aufzuregen, als die Tür des Lokals aufschwingt und ein sichtlich angetrunkener Mann unsere Runde ansteuert. Keiner von uns kennt ihn, aber er scheint uns zu kennen. Zumindest die Mutter von Hans, vor der er sich breitbeinig aufbaut. Mäuschen, raunzt er, ich höre, du willst Geld für den Rucksack? Kannste haben, kannste haben, hier haste, lallt er und hält einen Geldschein hoch in die Luft. Hans’ Mutter reagiert ausgesprochen cool. Vielen Dank, aber ichkönnte Ihnen das jetzt gar nicht quittieren – überweisen Sie die Summe doch auf das bekannte Konto. Daraufhin setzt der Mann sich neben sie und ruft nach Bier.
Jetzt wird es richtig interessant. Lukas’ Vater, stellt sich heraus, ist im Grunde ein Mann mit Prinzipien. Er weiß längst, was sein Sohn für Sperenzchen macht – mehr als einmal ist er mit seiner Frau schon zum Schuldirektor eingeladen worden. Zu diesen Terminen konnte er aber nie hingehen, weil er da ja auch Lukas’ Mutter, die blöde Kuh, getroffen hätte. Und mit der, teilt er uns so schockierten wie interessierten Eltern mit, setzt er sich überhaupt nirgendwo mehr zusammen hin. Stattdessen habe er dem Lukas grad neulich erst wieder richtig ein Ding verpasst – das sei die Sprache, die der Junge verstehe. Er sei heute abend hier, um mal zu hören, wer sich noch über Lukas beschweren möchte. Das würde er dann entsprechend zu Hause mit seinem Sohn klären.
Niemand hier hat ein Problem mit Lukas. Gar niemand. Stattdessen großes Duckmäusertum. Einige Eltern winken die Kellnerin herbei, sie möchtengern zahlen, es ist auch schon mächtig spät. Zügig löst sich die Runde auf.
Zu Hause wartet die Pubertistin auf uns. Sie hat den ganzen Abend mit Meta telefoniert und will nun wissen, was wir Erwachsenen unternehmen werden.
Was sollen wir sagen? Dass wir er wägen, das Jugendamt zu informieren? Das, was sich in Lukas’ kaputter Familie abspielt, geht die Pubertistin ja nichts an – und bei ihr um Mitgefühl für diesen rabiaten Jungmann zu werben, bringen wir auch nicht fertig. Halt dich fern von ihm, raten wir der Pubertistin, und wenn er anfängt, dich zu quälen, sag Bescheid. Das ist alles, fragt die Pubertistin, Bescheid sagen? Es ist eben eine vertrackte Sache mit der Solidarität.
Denn wenn es wieder hell wird, hole ich die Lokalzeitung aus dem Briefkasten und lese von Gewaltexzessen im kleinstädtischen Kontext. Im Polizeibericht ist die Rede von wilden Paintballgefechten auf dem stillgelegten Bundeswehrgelände, von aufgelösten Rechtsrockpartys in der Kreisstadt sowie Überfällen am Badestrand. Ja, es wird mehr und gern geballert, gesoffen und gekämpft im suburbanen Raum. Die Menschen tragen wenig kleidsame Outdoorklamotten, fahren unkorrekte allradgetriebene Geländewagen, und sie legen sich auch gern große Hunde zu. Wenn sie jung sind und nicht gut in der Schule aufgepasst haben, jagen sie Schüler durch den Stadtpark. Aber ist deshalb gleich der kleinstädtische dem großstädtischen Lebensentwurf vorzuziehen? Nein. Wäre dem so, müsste ich die Pubertistin hinter Schloss und Riegel verbannen.
Natürlich ist sie ungehalten darüber, dass wir sie vor Jahren aus ihrer Geburts- in die Kleinstadt verschleppt und so aus der Hauptstädterin eine Provinztussi gemacht haben. Aber das lassen wir nicht gelten, weil sie eigentlich immer unzufrieden ist. Ginge es nach ihr, müsste die Volljährigkeit auf 14 Jahre vorgezogen werden und Lehrer müssten verpatzte Klassenarbeitendiskret verbrennen. Aber es geht ja nicht nach ihr, und deshalb muss sie sich den gegebenen kleinstädtischen Lebensverhältnissen anpassen. Konkret bedeutet das vor allem kurze Wege und feste Strukturen bei sauberen Luftverhältnissen. Schule, Verein, regelmäßige Kieferorthopädentermine und heimliche Zigarettenpausen hinter dem Bahnhofsgebäude – das ist schon das ganze Abenteuer. Am Wochenende erfreut die kleinstädtische Kulturverwaltung ihre Bürger mit bunten Operettenmatinees, Preisskatturnieren oder Diavorträgen über Nepal. Alles, was zwischen 14 und 24 Jahre alt ist, kauft sich dann eine Fahrkarte und fährt zum Amüsieren in die nahe Hauptstadt.
Auch die Pubertistin verschwindet ja bekanntlich regelmäßig in diesem Moloch. Und ehrlich gesagt habe ich nicht den Eindruck,
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