Die Quelle
bis sie dicht vor Hagens Händen lag.
»Ich störe hoffentlich nicht«, sagte Sieber süffisant und meinte damit: »Du sitzt auf meinem Platz.«
Sieber hatte seine Karriere in der Partei gemacht, von ganz unten war er Stufe um Stufe nach oben geklettert. Er kannte die Mechanik der Macht mit all ihren schmutzigen Winkelzügen und war ein durch und durch machtorientierter Opportunist und Taktiker.
Hagen mit seiner naturwissenschaftlichen Ausbildung war politisches Taktieren zuwider. Als Physiker war er mit den Naturkonstanten vertraut, unverrückbaren Größen, nach denen wissenschaftliche Erkenntnisse beurteilt wurden. Dass er trotzdem seit Jahren der Politik zur Hand ging, schrieb er seiner einstigen Naivität zu. Erst in der Forschung tätig, hatte er den Schritt in das Unternehmertum gewagt und eine Energieberatung gegründet, als dem Institut, an dem er im Bereich der Energieeffizienz forschte, die Fördergelder gestrichen wurden.
Nach schweren Jahren, immer am Rande der Existenz und immer angewiesen auf Empfehlungen von wohlmeinenden Freunden, »entdeckte« ihn Arndt Fischer, der in der Partei noch um seine Nominierung als Kanzlerkandidat kämpfte. Es war eine Frage der persönlichen Chemie, dass Fischer seinen Rat suchte und ihn schließlich als seinen Energieberater erkor.
Hagen war der Schmeichelei in der naiven Hoffnung erlegen, mit Wissen Einfluss nehmen zu können. Diesen Irrtum aber hatte Sieber rasch korrigiert.
»Auch in der Politik gibt es eine Naturkonstante. Eine einzige. Macht. Und der ordnet sich alles unter.«
Nach dieser Maxime handelte Sieber, und deswegen mochte Hagen ihn nicht. Natürlich handelte auch der Kanzler nach diesem Grundsatz, aber mit einem kleinen, entscheidenden Unterschied, beruhigte Hagen sich immer wieder. Fischers Macht bot schließlich die Chance, etwas zu verändern, während bei Sieber die Machterhaltung an sich bestimmend war.
»Heute bitte keine Streitereien«, sagte der Kanzler, der um die Animositäten der beiden Männer wusste. »Hagen - Sie waren noch nicht am Ende.«
»Die Steuerung der Kraftwerke, das Herunterfahren und das Anfahren von Spitzenlastkraftwerken, die Einspeisung der Strommengen - das alles geschieht europaweit computergesteuert und ohne Eingriff von Menschenhand. Das gilt sowohl für den Fall, dass zu viel Strom in einem Netz vorhanden ist, als auch für den umgekehrten Fall.« Hagens Hände waren ständig in Bewegung, unterstrichen seine Worte mit genau kalkulierten Gesten.
»Nach dem, was wir noch erfahren haben, bevor alle Verbindungen zusammengebrochen sind, hat das Drama gestern in Südfrankreich begonnen. Frankreichs Stromproduktion fußt, wie wir alle wissen, zu über drei Vierteln auf Atomkraftwerken, die zu den ältesten der Welt gehören. Aufgrund eines Lecks im Kühlwassersystem musste ein Kernkraftwerk vom Netz genommen werden. Dabei gingen Relais zu Bruch, und weitere Atomkraftwerke koppelten sich zum Schutz der eigenen Turbinen automatisch vom Netz ab.
Die Unterversorgung im französischen Netz sollte mit Überschüssen aus Deutschland und Osteuropa ausgeglichen werden, indem dort Spitzenlastkraftwerke zusätzlich Strom einspeisten.
Just zu diesem kritischen Zeitpunkt stieg der Verbrauch in Frankreich aber dramatisch an, weil der französische Präsident sich im Fernsehen mit einer Rede an seine Landsleute wandte, nachdem seine angeblich gescheiterte Ehe seit Wochen Thema in der Presse ist.«
Der Bundeskanzler schmunzelte.
»Bei unserem Telefonat vor einer Woche hat er mir noch gesagt, dass er das nun gerade nicht tun werde.«
»In der letzten Woche hat die Presse ungeschminkte Rücktrittsforderungen formuliert. Er musste etwas sagen!«, murmelte Sieber.
»Hätte er sich nicht einen anderen Termin aussuchen können als gestern Abend? Ich hätte es zu gern gesehen«, spöttelte der Kanzler.
»Wie dem auch sei. Das Interesse an der Rede sprengte alle Dimensionen«, fuhr Hagen fort. »Die Stromnetze ächzten bereits Minuten vor der Übertragung unter der Last. Die Unterversorgung in Frankreich war plötzlich so groß, dass die geschalteten Transportleitungen des europaweiten Höchstspannungsnetzes den französischen Bedarf nicht ausgleichen konnten.
In Frankreich sank damit die Netzfrequenz endgültig unter den kritischen Wert. Zunächst schalteten sich zum Schutz der eigenen Turbinen, wie das bei Ungleichgewichten vorgesehen ist, weitere Kraftwerke ab, dann das französische Netz insgesamt.«
»Schön - ein klassischer
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