Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
Peter, seine einzige Freude seit dem Tod seiner Frau. Der Traum eines jeden Vaters verwandelte sich in den Albtraum eines jeden Vaters. Es gab keine Zukunft mehr, auf die er sich freuen konnte, niemanden mehr, mit dem er seine Zukunft hätte teilen können. Er sinnierte über seine Verluste und seine innere Einsamkeit. Einen Sohn hatte er an den Tod verloren, einen Sohn hatte er weggegeben; fast zwangsläufig gelangte Stephen zu dem Schluss, dass Peters Tod seine Bestrafung dafür war, Michael weggegeben zu haben, dass es sein Schicksal war, fortan mit leerem Herzen allein auf dieser Welt zu sein, weil er Michael im Stich gelassen hatte. Das Leben hatte keinen Wert mehr für ihn, und er fand sich damit ab, dass es keinen Unterschied mehr machte, ob er weiterlebte oder starb.
Und dann, vor etwa einem Jahr, erschien Mary St. Pierre in seiner Kanzlei und bat ihn, ihr dabei zu helfen, Michaels Vater ausfindig zu machen. Stephen verstand es, ein Pokerface zu wahren. Nur deshalb hatte Mary den Schock in seinen Augen nicht gesehen. Andernfalls hätte sie sofort Bescheid gewusst. Stephen konnte diesen Zufall kaum fassen. Obwohl er sich mit Michaels Verbrechen noch immer nicht abfinden konnte, wurde er durch Marys Erscheinungsbild und ihre Krankheit ein wenig kompromissbereiter.
Und dann tauchte Genevieve Zivera unangekündigt in seiner Kanzlei auf und brachte eine Geldkassette mit. Nur eine Stunde verbrachte er in ihrer Gesellschaft, gewann aber dennoch größten Respekt vor ihr. Hier war eine Frau, die versuchte, einen Vater und einen Sohn wieder miteinander zu vereinen. Und obwohl sie ihm reserviert und zurückhaltend erschien, war sie äußerst findig; schließlich hatte sie ja irgendwie herausgefunden, dass er Michaels Vater war. Sie sprach in den höchsten Tönen über Michael und seine selbstlose Natur, über den Schmerz, den er durch den Tod seiner Frau durchmachte. Und in gewisser Weise verärgerte Stephen das; sie gab Michael eine menschliche Dimension und versah ihn mit Charakterstärke, entkräftete die Vermutungen, die er bis dahin angestellt hatte. Sie sorgte dafür, dass Stephen das Gute in Michael sah und flößte ihm neuerlich die Vaterinstinkte ein, die er Jahre zuvor aus seinem Herzen verbannt hatte. Sie behauptete, dass er vielleicht eines Tages wegen der metallenen Kassette kommen würde und bat Stephen, bis dahin gut darauf aufzupassen.
Als Kelley vor drei Tagen die Tür geöffnet und den Mann gesehen hatte – den Sohn, den er nur von Fotos kannte und der jetzt plötzlich vor ihm im Türrahmen stand –, hatte ihm das einen Schauer über den Rücken gejagt, denn sein Schicksal hatte ihn gefunden. Obwohl er Michael gerne in die Arme geschlossen hätte, war seine Reaktion alles andere als väterlich gewesen. Zunächst entzog er sich ihm, ignorierte ihn, schickte ihn fort, nur um im nächsten Moment von Reue übermannt zu werden, weil er sich dem, was er am meisten im Leben fürchtete, nicht stellte: den Augen des Sohnes, den er weggegeben hatte.
Ihre kurze Begegnung, dieser Anfang einer Versöhnung, war auf brutale Weise von Zivera unterbrochen worden, der Michaels Gefühle zu seinem Nutzen ausbeutete. Nachdem man ihn verschleppt hatte an diesen Ort, von dem er nicht einmal wusste, wo er war, fragte Stephen sich, ob er jemals die Möglichkeit bekam, noch einmal mit Michael zu sprechen und ihm zu sagen, dass es ihm leidtat.
Jetzt, am dritten Tag, hatte Stephen wieder einen klaren Kopf. Seine vorgefassten Meinungen hatte er abgelegt, die Unterstellungen, zu denen er sich hatte hinreißen lassen, hatte er ausradiert. Seine Rechtsanwaltsnatur begann wieder durchzuscheinen. Stephen fragte sich, ob Michael finden würde, was Julian wollte, und ob eine wirkliche Chance bestand, dass er lebend aus dieser Zwangslage herauskam.
Er versetzte sich zurück in seine Zeit als Staatsanwalt und blickte nur auf die vorliegenden Fakten. Scheinbar saß er untätig in dieser Villa; in Wahrheit nutzte er die Zeit, um sich sein Umfeld im Detail einzuprägen: die Ausgänge, das Personal, die Wachen an der Tür. Er schaute sich genau an, wo Telefone standen, wo Fenster waren, welche Wagen wo auf der Auffahrt parkten und andere Fakten. Er inspizierte jede Ecke im Fitnessraum, in seinem Schlafzimmer, in seinem Bad. Dinge, die sich möglicherweise gebrauchen ließen, um irgendetwas zu improvisieren. Seine Unterhaltungen mit dem Hauspersonal waren höflich, aber nur Geplänkel. Diese Leute waren bestens geschult und würden
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