Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
Gefühle anderer, um ihre persönlichen Ziele zu erreichen. Ob es sich dabei um Industriemogule handelte, die sich an der Gier der Menschen bereichern und an ihrer Sucht nach Geld, um Prediger und Evangelisten, die das Seelenheil verschachern, oder um Quacksalber, die Wunderkuren und ein längeres Leben versprechen. Und die Schlimmsten von allen sind diejenigen, die aus der Zerbrechlichkeit des menschlichen Herzens Vorteile ziehen.
»Mein Sohn wird bald tot und an einem besseren Ort sein«, sagte Raechen, der auf dem Boden saß, die Hände in Handschellen, angeschossen und blutend. Michael konnte sehen, wie die Hoffnung und die Zuversicht, sein Sohn könne vielleicht doch noch überleben, aus seinen Augen schwanden. Obwohl Raechen ihn geschlagen hatte, obwohl er ihn und Susan hatte foltern wollen, verspürte Michael überwältigendes Mitleid mit dem Mann. Mit dessen Sohn. Mit der Grausamkeit des Schicksals, das ganze Familien verwüsten konnte.
»Es tut mir leid.« Michael sah Raechens Schmerz – einen Schmerz des Verlusts und der Machtlosigkeit. Diesen Schmerz kannte er nur zu gut. Es war ein Schmerz, den er nicht noch einmal durchmachen konnte. Wenn er überhaupt eine Chance haben wollte, seinen Vater zu retten und Susan zu finden, musste er hier raus.
Wortlos beugte Michael sich über Raechen und knebelte ihn, obwohl es ihm leidtat. Er fesselte die Beine des Russen und befestigte die Handschellen an den Füßen des schweren Schreibtischs, auf dem die vielen Monitore standen. Dann schaute er auf Raechens Armbanduhr: Es war nach drei; die Besichtigungstouren endeten um fünf. Sie waren Michaels einzige Möglichkeit, zu entkommen.
Noch einmal wandte er sich an Raechen. »Es tut mir ehrlich leid für Sie und für Ihren Sohn.«
Und Michael ging.
Der Fahrstuhl brachte Michael die sechs Etagen nach oben ins Erdgeschoss. Die eine Waffe hatte er sich so in den Hosenbund gesteckt, dass er jederzeit danach greifen konnte, während die andere hinten in seinem Gürtel steckte. Als die Türen sich öffneten, blickte er auf abstrakte Gemälde, die das Innere einer großen Halle schmückten – eine moderne Welt im Herzen einer antiken. Michael befand sich im neuesten der zahlreichen Kreml-Gebäude, dem Kongresspalast, der ehemaligen Brüll-Arena kommunistischer Rhetorik. Heute kam das Brüllen aus den Kehlen von Rockstars. Aber an diesem Tag gab es keine Veranstaltungen, nur Touristengruppen und Wachmänner. Michael zupfte an seiner Jacke, bis die Waffe in seinem Hosenbund nicht mehr zu sehen war. Er zog eine Touristenkarte hervor, versteckte sein Gesicht dahinter und trat aus dem Fahrstuhl. Menschen liefen umher; einige lauschten den Erklärungen der Reiseführer, während die meisten sich umschauten und sich leise unterhielten.
Michael zog Raechens Handy heraus und wählte Buschs Nummer. Es läutete viermal, dann schaltete sich die Mailbox ein.
»Ich hoffe bei Gott, dass du am Leben bist, Paul. Ich bin im Kreml, im Kongresspalast. Ich werde versuchen, mit einer der Reisegruppen hier herauszukommen. Fetisow hat Susan und …«
Zwei Wachmänner auf Patrouille kamen um eine Ecke. Sie blickten Michael an, nahmen ihn aber nicht weiter zur Kenntnis. Er klappte das Handy zu, ging lässig zu einer großen Gruppe von etwa fünfzig Touristen und schloss sich ihnen an. Die Gruppe bestand aus Europäern aus verschiedenen Ländern; eine Vielzahl von Sprachen hallte von den Wänden der Vorhalle wider. Michael zog es zu einer Gruppe, die aus acht Ehepaaren und zwei Frauen bestand – Briten und Amerikaner –, die durcheinanderredeten. Sie wurden begleitet von einer Reiseführerin, die Englisch mit russischem Akzent sprach. Michael vertiefte sich in seine Karte und wartete, dass die Gruppe weiterzog.
Endlich verließen sie den Kongresspalast und traten hinaus in den Sonnenschein des Spätnachmittags. Es war das erste Tageslicht, das Michael seit der Hauptverkehrszeit bei Morgengrauen zu sehen bekam, und obwohl es ihm in den Augen schmerzte, war er dankbar und hoffte, bald schon in der Lage zu sein, die Wärme der Sonne auf der anderen Seite der Kreml-Mauer zu genießen.
Die Gruppe marschierte über die breiten Bürgersteige, passierte das Arsenal und bahnte sich den Weg zum Kathedralenplatz. Als er, Susan und Fetisow das Gelände besichtigt hatten, war Michael gar nicht recht bewusst geworden, wie schön dieser Ort war. Die goldenen Kuppeln schimmerten im hellen Tageslicht – eine Explosion von Form und Farbe, die einzigartig
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