Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
stand er auf dem Balkon seines Zimmers und suchte mit Blicken den schmalen Streifen Land zwischen der Villa und den Klippen ab. Dort tauchten alle zwanzig Minuten – nahezu auf die Sekunde genau – zwei Wachen auf, die mit wachsamem Blick auf dem Gelände ihre Runden drehten. Sie waren keine billigen Schlägertypen, wie man sie überall anheuern konnte, sondern ehemalige Soldaten, Männer mit militärischer Erfahrung, die auf Präzision gedrillt waren. Und da sie so gründlich Patrouille liefen, waren sie bestimmt auch Experten im Umgang mit den Gewehren und Seitengewehren, die sie mit sich führten.
Stephen trug Jeans und ein dunkles Jackett, die er beide im Schrank gefunden hatte; die Jacke war seine einzige Alternative zu dem eleganten Hemd, das er bei seiner Ankunft getragen hatte, und dem weißen Baumwollhemd, das Zivera ihm zur Verfügung gestellt hatte. Beide wären im Mondlicht zu Blendlaternen geworden. Um seinen Hals trug er ein Badetuch, das er so drapiert hatte, als wäre er gerade aus der Dusche gekommen.
Er hatte sein Zimmer förmlich auf den Kopf gestellt, aber nichts gefunden, was er zu einer Waffe hätte umfunktionieren können. Er musste also seinen Fäusten und seinem Verstand vertrauen. Und genau deshalb schlug sein Herz so wild: Er wusste, dass er im Begriff stand, die größte Torheit seines Lebens zu begehen; zugleich wusste er, dass es erst recht unklug gewesen wäre, hier zu bleiben. Es führte zu nichts, wenn er sich wider besseres Wissen vormachte, in Sicherheit zu sein. Zivera sah vielleicht wie ein Gentleman aus, doch Stephen hatte keinen Zweifel: Der Mann würde ihn töten, und zwar bald.
Stephen schwang ein Bein über die Balkonbrüstung und blickte nach unten. Es waren fünfzehn Meter. Wenn der Sturz ihn nicht gleich umbrachte, würden die Wachen ihn mit gebrochenen Knochen auf dem Boden finden, wenn sie in zwanzig Minuten zurückkehrten. Jedes Zimmer war so ausgerichtet, dass es einen Blick über das Mittelmeer bot. Deshalb hatte jedes Zimmer einen eigenen Balkon und somit eine Loge hoch über dem Ozean, wo man das Meer riechen und die Brise spüren konnte, wann immer das Herz es begehrte. Direkt unter Stephens Zimmer, das sich im dritten Stock befand, war ein weiterer Balkon, und darunter noch einer.
Stephen schwang das zweite Bein über die Brüstung aus Marmor und legte das Badetuch so um die Balustrade, dass er sich mit jeder Hand an einem Ende des weißen Frotteelakens festhalten konnte. Er zog daran und prüfte die Festigkeit. Schließlich schob er seine Füße auf der Außenseite des Balkons fest gegen den unteren Mauerrand und lehnte sich zurück. In einer Schräglage von etwa fünfundvierzig Grad reckte er den Kopf nach unten. Er sah den Balkon im zweiten Stock und den abgedunkelten Raum, der sich dahinter befand. Niemand hielt sich darin auf.
Stephen zog sich wieder nach oben und drückte seinen Körper gegen die Marmorpfeiler an der Außenseite des Balkons. Er machte einen Augenblick Pause, konzentrierte sich und ging auf die Knie, drückte sich fest gegen den Marmor und kämpfte gegen seine Ängste an. All sein Sinnen und Trachten war nur auf das Ziel ausgerichtet, nicht zu stürzen. Er packte das Badetuch fest mit beiden Händen und ließ sich fallen. Sein Körper stürzte nur anderthalb Meter, dann straffte sich das Badetuch. Stephen hing genau unter seinem Balkon. Er baumelte einen Moment in der Luft, trat mit den Füßen und suchte nach einem Tritt, denn seine Arme schmerzten vom Ruck des Falls. Endlich berührte sein linker Fuß die Brüstung des unteren Balkons, und er fand Halt.
Stephen brachte seinen Körper ins Gleichgewicht und balancierte auf der marmornen Oberseite der Balustrade wie auf einem Schwebebalken. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren und lief ihm über den Körper. Es war ein kalter Schweiß, der prickelte wie Sprühregen und seine Haut mit klebriger Feuchtigkeit benetzte. Es war nackte Angst, wie er sie noch nie empfunden hatte.
Stephen löste die rechte Hand vom Badetuch und ging wie ein Turner in die Hocke, griff nach der fünfzehn Zentimeter breiten Marmorbrüstung, auf der er so gefährlich stand, und zog dabei das Badetuch mit der linken Hand nach unten. Dann sprang er auf den Balkon und atmete tief durch. Er blickte unter sich, hinter sich und über sich, ob jemand ihn beobachtet hatte. Dann setzte er sich auf den Marmorbalkon im zweiten Stock, zog die Knie an die Brust und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, gleichmäßig zu
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