Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
atmen und sich selbst davon zu überzeugen, dass er zumindest den Hauch einer Chance hatte, den morgigen Tag doch noch zu erleben. Nachdem er zwei Ehefrauen und seinen Sohn verloren hatte, hatte er das letzte Jahr damit verbracht, seinen Lebenswillen in Frage zu stellen. Jetzt erübrigte sich das.
Stephen stand auf und schaute auf die Armbanduhr. Er war sicher, dass inzwischen mindestens zehn Minuten vergangen sein müssten, aber seine Uhr sagte ihm die Wahrheit: Es war nur eine einzige Minute gewesen.
Stephen sah sich um. Er wurde das seltsame Gefühl nicht los, dass jemand ihn beobachtete, dass man ihn durchs Zielfernrohr bereits im Fadenkreuz hatte. Er schlang das Badetuch um die Balkonbrüstung und schwang sich hinunter auf den nächsten Balkon unter ihm. Es gelang ihm beim zweiten Mal ein bisschen besser, und er war dankbar, dass er von dort, wo er jetzt stand, nur noch zweieinhalb Meter springen musste, um auf den Boden zu gelangen.
Kaum war er auf dem Gras gelandet, rannte er in die Richtung, die auch die Wachmänner eingeschlagen hatten. Dabei warf er einen flüchtigen Blick über den Klippenrand und entschied sich dagegen, nach unten zu klettern: Es war eine steiler Abstieg über schroffe, spitze Felsen, die von einer Brandung umspült wurden, die jeden zermalmte, der hineingeriet.
Also lief Stephen zurück in Richtung Villa und hielt sich in deren Schatten.
Als er um eine Gebäudecke spähte, sah er, dass eine Wagenflotte auf der Auffahrt parkte. Eine Gruppe von Fahrern stand zusammen. Worüber sie sich unterhielten, war nicht zu verstehen. Vor Stephen, parallel zum Haus, erstreckte sich ein Pinienwäldchen, das aus vielleicht fünfhundert Bäumen bestand. Das Gehölz war dicht und musste einst zu einem großen Waldstück gehört haben. Damit er zu dem zurechtmanikürten Gelände passte, hatte man ihn ausgedünnt und sämtliches Buschwerk und das Unterholz entfernt. Glücklicherweise waren die Baumkuppen noch dicht und boten Schutz vor dem Mondlicht. Perfekt, um sich darin zu verstecken.
Stephen rannte über den ungefähr zehn Meter breiten Grasstreifen und in den Wald hinein. Der Waldboden bestand aus Piniennadeln und Mulch – ein weicher Boden, auf dem er kaum Geräusche machte. Vorsichtig joggte Stephen durch die Dunkelheit. Das wenige Licht, das durch die Baumkronen fiel, reichte so eben, um ein paar Meter weit sehen zu können. Stephen schätzte, dass die Berge ungefähr acht Kilometer weiter östlich lagen, doch abgesehen davon hatte er keine Ahnung, wo er sich befand. Er wusste nur, dass er weit weg war von zu Hause und von einem Leben als freier Mann. Stephen bewegte sich leise, und sein Blick huschte hin und her, ob irgendwo Gefahr lauerte.
Er wurde fündig.
Aus einem Gebäude am Waldrand stürmten zwei Dutzend Wachmänner und sprangen in ein offenes Fahrzeug. Anscheinend wurden sie zum Einsatz gerufen. Stephen befürchtete, dass er der Grund dafür war.
Stephen überlegte fieberhaft. Es würde nicht lange dauern, bis die Männer ihn fanden; er hatte es nur etwa anderthalb Kilometer vom Haus weg geschafft. Der Kreis der Verfolger würde sich rasch um ihn schließen, und seine Flucht in die Freiheit würde vorbei sein. Er wurde gehetzt, und er war eine leichte Beute.
Stephen schaut sich in dem Waldstück um. Nein, hier konnte er sich nirgendwo verstecken. Dann aber wurde ihm klar, dass es einen Ort gab, an dem sie ihn nicht suchen würden.
Stephen rannte zwischen den letzten Bäumen hindurch und blieb vor der Seitenwand des Gebäudes stehen, das er erst Augenblicke zuvor erspäht hatte. Es war ein altes, mit Fachwerk verziertes Bauernhaus. Er lugte durch den Türrahmen des einstöckigen Gebäudes, aus dem die Wachmänner gekommen waren. Dahinter befand sich ein offener Raum, in dem sich offenbar niemand aufhielt. Vorsichtig trat Stephen ein. An der Wand standen mehrere große Schreibtische, auf denen Computer und Bedienungspulte für Funkanlagen standen. Auf der anderen Seite des Raumes befanden sich Stühle und Sofas. Stephen blickte aus der Tür und aus den Fenstern. Als er niemanden sah, lief er durch den Raum und öffnete Schubladen, Wand- und Aktenschränke, entdeckte aber nichts, das ihm Aufschluss darüber hätte geben können, wo er sich befand. Die Computermonitore zeigten Einlogg-Menüs. Für die Benutzung der Funkgeräte waren Passworte nötig. An der Wand hing eine Landkarte des Geländes. Er riss sie herunter und schnappte sich einen Stift. Rasch sah er, wo er sich befand,
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